Als er den Innenhof verlassen hatte, orientierte er sich mit Hilfe des fahlen Mondlichtes, das die ganze Umgebung in ein gelbliches Gewand hüllte. Ein plötzliches Rascheln ließ ihn heftig zusammenzucken, aber sein Körper entspannte sich wieder, als er den dunklen Schatten einer Ratte sah, die in einer Mauernische verschwand.
Sobocan versuchte es zunächst mit einem Klimmzug, nachdem er den Steinbrocken, der sich für seine weiteren Pläne als hinderlich erwies, aus der Hand gelegt hatte. Er rutschte zurück und versuchte es noch einmal. Diesmal schaffte er es, doch im selben Moment glaubte er, sein Herz würde stillstehen.
Ein lauter Schrei gellte durch die Nacht.
Drüben, auf jener Seite des Hofes, auf der sich die Türen befanden, die zum Hauptgebäude der Felsenmoschee führten, stand eine Gestalt und deutete zu Sobocan.
Der junge Bursche begriff augenblicklich, was das zu bedeuten hatte. Ohne weitere Zeit zu verlieren, sprang er auf der anderen Seite der Mauer hinunter und begann um sein Leben zu laufen.
Sein Weg führte einen steilen Abhang hinunter. Seine nackten Füße tasteten sich geschickt über Steine und Geröll hinweg. Als er eine schmale Schlucht passierte, durch die man die Küste erreichen konnte, hörte er, wie das Geschrei der Derwische, die die Verfolgung aufgenommen hatten, immer lauter wurde.
Sobocan war davon überzeugt, den richtigen Fluchtweg gewählt zu haben, denn die Pfade, die hinauf in die zerklüfteten Berge führten, wären zu zeitraubend gewesen. Zu leicht hätten ihm dort die Verfolger den Weg abschneiden können. So gab es im Moment nur ein Ziel für ihn – das Meer. Er mußte unbedingt so schnell wie möglich die nahe Küste erreichen.
Mit Sicherheit würden die Derwische die Umgebung der Festung absuchen. Außerdem konnte jeden Moment der neue Tag hereinbrechen. Der nächtliche Himmel verwandelte sich bereits in einen zarten Schleier, und schon bald würde die Sonne wie ein glutroter Ball am Horizont auftauchen. Dann würde es hier keine Sicherheit mehr für ihn geben.
Es mußte ihm gelingen, unten am Strand die Boote zu erreichen, die von den Derwischen zum Fischen benutzt wurden. Noch hatte er zwar kein klares Ziel vor Augen, aber er wußte, daß er nur dann eine Chance hatte, wenn es ihm gelang, die Küste zu verlassen. Zunächst mußte er ganz einfach weg von hier – weg von der mordlüsternen Meute, die hinter ihm her war.
Sobocan atmete schwer. Seine Brust hob und senkte sich in einem immer rascher werdenden Rhythmus. Das Geschrei der Derwische rückte ständig näher. Laute Befehle schienen sich mit Wutgeheul zu vermischen. Man mußte erkannt haben, welche Richtung er eingeschlagen hatte.
Jetzt hing alles davon ab, schneller zu sein. Ein Kampf schied aus. Gegen die Übermacht dieser Kerle, die höchstwahrscheinlich bis an die Zähne bewaffnet waren, hätte er keine Chance, auch nicht die geringste. So mobilisierte der junge Türke die letzten Kraftreserven seines drahtigen Körpers.
Nach kurzer Zeit erreichte er den Strand und warf sich der Länge nach in den weichen Sand. Doch die Verschnaufpause war nur von sehr kurzer Dauer. Er raffte sich wieder auf und schob in fieberhafter Eile eins der kleinen Boote ins Wasser, nachdem er sämtliche Riemen – auch jene für die anderen Boote – über die Duchten geworfen hatte. Zwei davon würde er selbst brauchen, die übrigen würde er später, wenn er ein Stück weiter draußen war, ins Wasser werfen. Hauptsache, sie standen nicht seinen Verfolgern zur Verfügung.
Ein grimmes Lächeln glitt über das sonnengebräunte Gesicht Sobocans, als er sich die Derwische vorstellte, wie sie in die Boote sprangen, aber außer ihren Händen nichts hatten, um die Wasserfahrzeuge vorwärtszubewegen.
Unter Einsatz seiner letzten Kräfte pullte er aufs Meer hinaus. Er rundete gerade einen Felsvorsprung, der weit ins Wasser hinausragte, als die ersten Derwische drüben am Strand auftauchten.
Einige Musketen- und Pistolenschüsse krachten hinter ihm her, aber er befand sich bereits außerhalb der Reichweite dieser Schußwaffen. Wie er feststellte, wurden auch die restlichen Boote nicht ins Wasser gebracht, also mußte man das Verschwinden der Riemen bereits bemerkt haben.
Sobocan atmete erleichtert auf. Das war knapp gewesen, aber er hatte es geschafft, Ibrahim Salih und seinen Männern zu entwischen – kurz vor Tagesanbruch. Die hundert Peitschenhiebe und die angekündigte Hinrichtung würden ihm somit erspart bleiben.
Doch was erwartete ihn draußen auf See? Wo sollte er sich verkriechen, um vor den Derwischen sicher zu sein? In den nächsten Stunden würde er jedenfalls nicht an die Küste zurückkehren können. Man würde mit Sicherheit Posten in östlicher als auch in westlicher Richtung aufstellen.
Längst hatte Sobocan die Derwische aus den Augen verloren. Seine Arme schmerzten, seine zerschundenen Handgelenke bluteten an verschiedenen Stellen. Aber er pullte ununterbrochen weiter – hinaus auf die weite Wasserfläche, die im schwächer werdenden Licht des Mondes silbrig schimmerte.
Sobocan war davon überzeugt, daß sich die Derwische innerhalb der nächsten Stunden mit neuen Riemen eindecken würden. Dann würde es auch auf dem Wasser keine Sicherheit mehr für ihn geben. Doch er hoffte, bis dahin hinter der Kimm verschwunden zu sein.
3.
Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte die Hände auf die Schmuckbalustrade des Achterkastells gestützt und ließ seine eisblauen Augen prüfend über die Decks der „Isabella VIII.“ wandern.
Doch dort ging alles seinen gewohnten Gang, seit die Galeone die Insel Rhodos hinter sich gelassen und den türkischen Seeräuber Selim sowie Lord Henry und seine Bande abgeschüttelt hatte.
Der ranke Rahsegler mit einer Größe von etwa zweihundertfünfzig Tonnen, der einst vom besten Schiffsbauer Englands erbaut worden war, hatte – von Rhodos ausgehend – östlichen Kurs eingeschlagen und pflügte mit achterlichem Wind die Wellen vor der türkischen Südküste.
An Backbord spiegelte sich die Morgensonne im Wasser des Golfes von Antalya. Irgendwo dort hinter der Kimm mußte sich das sogenannte „Rauhe Kilikien“ befinden, dessen felsiges Gebirge, der Taurus, sich an der Küste entlang in Richtung Osten hinzog.
Die Luft an diesem frühen Morgen in der Mitte des Monats Dezember 1591 war kühl und roch salzig. Aber bald würde die Sonne höher am Himmel stehen und auch jetzt, im Winter, eine angenehme milde Temperatur verbreiten.
Das Leben an Bord der „Isabella“ pulsierte. Jedes Mitglied der Crew füllte seinen Platz aus und wußte, wo eine zupackende Hand vonnöten war.
Die Mehrzahl der Männer befand sich auf den Decks. Darunter Ferris Tukker, der rothaarige Schiffszimmermann, Batuti, der schwarze Mann aus Gambia, sowie Smoky, Blacky, Gary Andrews, Matt Davies, Al Conroy, Jeff Bowie und Sam Roskill. Auch die Zwillinge, der Profos und Old O’Flynn hielten sich auf der Kuhl auf. Der Kutscher hantierte in seiner Kombüse, und die übrigen Seewölfe wie Stenmark, Dan O’Flynn, Bob Grey, Luke Morgan, Will Thorne und Big Old Shane waren unter Deck beschäftigt. Bill, der Moses, der zu einem kräftigen jungen Mann herangewachsen war, hatte seinen Platz im Ausguck eingenommen.
Während sich Philip und Hasard, die elfjährigen Zwillingssöhne des Seewolfs über das Backbordschanzkleid gehängt hatten, um einen vorüberziehenden Fischschwarm zu beobachten, hielt Old Donegal Daniel O’Flynn, der rauhbeinige Alte mit dem Holzbein und dem verwitterten Gesicht, die Hand über die Augen und spähte zur Sonne hinauf, die sich mit einem schwefelgelben Schleier umgeben hatte.
Bald folgten die Zwillinge seinem Blick.
„Was gibt es dort oben zu sehen?“ fragte Hasard junior.
„Was schon“, brummte der Alte. „Die Sonne natürlich!“
„Die Sonne?“ fragte Hasard verblüfft. „Aber das ist doch nichts Neues, die kann man doch fast jeden Tag sehen.“
„Eben“, knurrte