Ein Blick auf die biologische Entwicklung der Geschlechterdifferenzierung hilft hier zum Verständnis der Zusammenhänge: Unter dem Einfluss des männlichen Y-Chromosoms entwickeln sich im männlichen Embryo um die siebte Schwangerschaftswoche die zunächst neutral angelegten Keimdrüsen in Hoden, die sehr bald mit der Produktion großer Mengen von Androgenen (männlichen Geschlechtshormonen), insbesondere von Testosteron, beginnen. Dieses hat nun einen steuernden Effekt auf die weitere Geschlechtsdifferenzierung, in sehr direkter Weise auf die Ausbildung der äußeren Geschlechtsmerkmale, auf komplexere und flexiblere Weise auch auf die geschlechtsspezifische Prägung bestimmter Gehirnstrukturen (Hines 2004, 215–219; Baron-Cohen 2004, 140–141; Bischof-Köhler 2004, 197).70 Testosteron aktiviert im fötalen Gehirn im zweiten bis sechsten Schwangerschaftsmonat bestimmte Verhaltensneigungen (Baron-Cohen 2004, 140; Bischof-Köhler 2004, 200), die sich dann bereits in den ersten Lebensjahren weltweit im unterschiedlichen Spielverhalten von Jungen und Mädchen niederschlagen (Maccoby 1999, 32–46). Der Unterschied zeigt sich vor allem in dem sogenannten „Wildfangverhalten“ der Jungen (Bischof-Köhler 2004, 203),71 das sich durch eine hohe physische Aktivität mit einem Drang zum Kräftemessen und Wettbewerb auszeichnet (Maccoby 1999, 18–31) im Gegensatz zu dem beziehungs- und kommunikationsgeprägten Spielverhalten der Mädchen (Maccoby 1999, 46). Dieser Unterschied trägt zu der ebenfalls universal zu beobachtenden Geschlechtertrennung im Schulalter bei (Maccoby 1999, 22.44.62.87), die wiederum als wichtiger Einflussfaktor für die unterschiedliche Sozialisierung der Geschlechter und die Ausprägung von geschlechtsspezifischen Verhaltensunterschieden angesehen wird (Maccoby 1999, 144–152).
Die Verhaltensunterschiede zwischen Mann und Frau werden von Forschern unterschiedlich gewichtet, polarisiert und interpretiert. Sie lassen sich grob so zusammenfassen: Während sich im Blick auf die allgemeine Intelligenz kein Unterschied zwischen Männern und Frauen nachweisen lässt (Maccoby und Jacklin 1974, 65; Hines 2004, 11; Baron-Cohen 2004, 23), gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede in bestimmten Gehirnleistungen und Verhaltensneigungen: So haben Männer im Durchschnitt ein etwas besseres räumliches Vorstellungsvermögen und analytisch-mathematisches Verständnis als Frauen (Maccoby und Jacklin 1974, 91–98; Hines 2004, 12–13; Bischof-Köhler 2004, 234) und die männlichen Denkprozesse sind in der Regel mehr auf das Erforschen, Begreifen und Entwickeln von logischen Systemen ausgerichtet als die weiblichen (Baron-Cohen 2004, 14). Männer legen im Durchschnitt mehr Wert auf Leistung und Wettbewerb als Frauen (Clark 1980, 396.398; Maccoby 1999, 39) und haben in der Regel eine höhere Risikobereitschaft (Bischof-Köhler 2004, 296–297) sowie ein größeres Durchsetzungsvermögen (Maccoby 1999, 36–39; Bischof-Köhler 2004, 304–305). Auch Rang und Status sowie der Aufbau von Dominanzhierarchien sind ihnen meist wichtiger als Frauen (Baron-Cohen 2004, 55. 61–64; Maccoby 1999, 38–39.51). Frauen haben im Durchschnitt eine bessere verbale Kompetenz als Männer (Hines 2004, 11; Bischof-Köhler 2004, 234). Ihr Interesse ist tendenziell mehr auf zwischenmenschliche Beziehungen und Kommunikation ausgerichtet (Maccoby 1999, 46–50; Bischof-Köhler 2004, 342–345), ihre Denkweise in der Regel ganzheitlicher. Sie haben im Durchschnitt ein etwas stärkeres Empathievermögen und sind in der Regel mehr auf das Verstehen und die Fürsorge von Menschen ausgerichtet als Männer (Baron-Cohen 2004, 12–13.16; Bischof-Köhler 2004, 348–351).
Bei der Interpretation dieser Unterschiede darf nie vergessen werden, dass sie generell viel geringer sind, als manche Stereotypen vermuten lassen (Hines 2004, 182),72 und dass es sich um Durchschnittswerte handelt, von denen einzelne Männer und Frauen oft weit abweichen. Auf die Frage, wie weit nun die biologischen Unterschiede verantwortlich sind für das universale Geschlechtermuster, geben die Wissenschaftler keine einheitliche Antwort. Da Hirnstrukturen auch durch soziale Prägung und persönliche Erfahrung verändert werden können (Hines 2004, 211; Baron-Cohen 2004, 246), wird eine saubere Unterscheidung zwischen strikt biologisch bedingten Unterschieden und soziokulturell bedingten nicht möglich, aber auch nicht nötig sein (Hines 2004, 214; Van Leeuwen 2007, 174). So formuliert Konrad Köstlin: „Natur gibt es für uns nur aus zweiter Hand, als zweite Natur, hindurchgegangen und sichtbar gemacht durch die Brille des Kulturellen“ (Köstlin 2001, 3). Bedenkt man in diesem Zusammenhang die biblische Perspektive zu Natur und Kultur des Menschen, dann kann davon ausgegangen werden, dass das universale Muster der Geschlechterbeziehung sowohl schöpfungsbedingt als auch durch den Sündenfall beeinflusst ist.73
2.2.3 Kulturbedingte Einflussfaktoren auf die Rolle der Frau
Fragt man nun, welche Faktoren für die kulturelle Vielfalt verantwortlich sind, die trotz des einheitlichen Grundmusters die Rolle der Frau charakterisiert, so lassen sich mindestens fünf Einflussfaktoren erkennen, die ich im Folgenden beschreiben möchte. Dabei muss bedacht werden, dass sie alle aufs engste miteinander verwoben sind.
2.2.3.1 Die Abstammungsrechnung und Familienstruktur
In den meisten Kulturen dieser Erde werden Menschen nicht als Individuen, sondern als Glieder ihrer Verwandtschaftsgruppe gesehen. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bestimmt ihre Identität und ihren Status, sichert ihre wirtschaftliche Existenz und legt auch ihre soziale Rolle in der Gesellschaft in sehr engen Grenzen fest. Das gilt in besonderer Weise auch für die Rolle der Frau.
Ihre Stellung wird unter anderem stark beeinflusst von der Abstammungsrechnung, also der Organisation des Verwandtschaftssystems in einer Kultur, nach der die Familienzugehörigkeit des einzelnen Menschen definiert und die Erbfolge festgelegt ist. Es gibt zwei Grundarten, die Abstammung und Familienzugehörigkeit der Mitglieder einer Gesellschaft festzulegen: die patrilineare, bei der dies durch die väterliche Linie geschieht, und die matrilineare, bei der es auf die Linie der Mutter ankommt. Eine strikt patrilineare Abstammungsrechnung hat auf die Stellung der Frau eine doppelte einschränkende Auswirkung: In ihrer eigenen Ursprungsfamilie hat sie keine dauerhafte oder bedeutende Stellung, denn sie muss diese bei ihrer Heirat verlassen. Nützen kann sie ihrer eigenen Familie lediglich durch eine vorteilhafte Heirat. Diese aber bedeutet für sie selbst, dass sie als Fremde in den Familienverband des Ehemannes eintritt. Dort ist sie für ihren Lebensunterhalt und ihre Lebensumstände völlig von ihrem Ehemann und dessen Familie abhängig. Ihre Stellung in diesem Familienverband hängt vor allem davon ab, ob sie der Familie Söhne als „Stammhalter“ gebären kann.74 Der Besitz wird vom Vater auf die Söhne vererbt.
Diese Abstammungsrechnung ist die häufigste in den traditionalen Gesellschaften der Erde (Llobera 2003, 42–43) und kommt vor allem bei Viehzüchtern und in Ackerbauerngesellschaften vor. Die Ethnologin B. Denich beschreibt die Folgen einer extremen Betonung dieser Abstammungsrechnung für Stellung und Leben der Frauen in einigen Viehzüchter- und Ackerbauernkulturen im Balkan. Dort wird durch die betont patrizentrische Ausrichtung der Familienstruktur die Rolle der Frau nur durch ihre völlige Unterordnung unter den Mann, harte Arbeit und das Gebären und Aufziehen von Kindern definiert (Denich 1974, 243). In solchen Gesellschaften wird die Unterordnung der Frau häufig durch bestimmte „ritualisierte Ausdrucksformen der autoritären Haushaltsstruktur“ hervorgehoben (Denich 1974, 253).75
Anders sieht es bei einer strikt matrilinearen Abstammungsrechnung aus, die bei zahlreichen kleineren Gesellschaften dieser Erde vorkommt. Sie findet sich vor allem bei Pflanzern in tropischen Waldgebieten, bei denen der Landbesitz der Pflanzungen und die Hauptarbeit des Nahrungserwerbes in den Händen der Frauen liegt (Kraft 1996, 294). Hier werden Abstammung und Identität der Menschen durch die mütterliche Familie definiert. So verlässt in diesem Fall der Mann seine eigene Ursprungsfamilie und gliedert sich in den Familienverband der Frau ein, wo er nur wenig soziale Bedeutung oder Entscheidungsbefugnis hat. Entscheidungsträger ist hier eher der Bruder der Frau (Käser 1998, 103). Die Kinder eines Ehepaars gehören zur Familie der Mutter, das Erbe geht von der Mutter auf die Töchter über. Eine solche Abstammungsrechnung hebt natürlich die Stellung der Frau, der dann innerhalb der Großfamilie oft eine zentrale Funktion und Rolle zukommt. Dennoch sind auch hier die Repräsentanten und Hauptversorger der Familien die Männer (Kraft 1996, 294).76
Nicht in allen Gesellschaften ist die Abstammungsform strikt festgelegt und betont, in einem Drittel der Gesellschaften