2.1.4 Kulturveränderung
Trotz ihrer Stabilität sind Kulturen jedoch nicht statisch, sondern dynamisch und in konstantem Wandel begriffen (Herskovits 1980, 145–146; Willowbank Report 1981, 313; Kraft 1996, 359). Dieser Wandel geschieht von innen her durch Erfindungen und Entdeckungen aufgrund der Kreativität der Menschen, aber auch von außen durch Kontakte mit anderen Kulturen, Zugang zu Bildung und neuen Technologien (Herskovits 1980, 150; Dollard 1980, 443; Kraft 1996, 369). Dabei gibt es in jeder Kultur eine kontinuierliche Sorge um den Erhalt ihrer Identität und einen inneren Widerstand gegen zu viele und rasche Veränderungen (Herskovits 1980, 145). Ein zu rascher Wandel, der auf unvorbereiteten Boden trifft, kann schwerwiegende Folgen haben. Er kann ein Volk in Stress bringen, ja in einen regelrechten „Kulturschock“ versetzen (Kraft 1996, 125). Identitätsverlust und Demoralisierung sind die Folgen mit der Gefahr des Zerfalls und des Untergangs einer Kultur (Herskovits 1980, 145; Kraft 1996, 359).53 Über ein solches Geschehen in extremem Ausmaß gibt die Geschichte der indigenen Völker Lateinamerikas Zeugnis. Dabei zeigt sich aber auch die erstaunliche Fähigkeit mancher Kulturen, ihre Balance nach einer solchen Verletzung wieder zu finden und sich zu erholen (Kraft 1996, 125–126).
Neue Elemente werden von einer Kultur freiwillig am ehesten dann aufgenommen, wenn sie als passend zu den bestehenden Mustern empfunden werden und wenn das Ordnungsempfinden einer Gesellschaft erhalten bleibt. Das vorhandene Kulturmuster gibt also die Richtung und die Grenzen vor, innerhalb derer eine Veränderung hingenommen wird.
Charles Kraft weist auch christliche Mitarbeiter im kulturübergreifenden Dienst immer wieder auf die Gefahr hin, durch mangelnde Sensibilität bei der Verkündigung des Evangeliums und im Gemeindebau kulturelle Strukturen unnötig zu beschädigen und so ungewollt Gesellschaften aus dem Gleichgewicht zu bringen. Diese Gefahr sieht er vor allem im Blick auf die Sozialstrukturen eines Volkes. So könne die Einführung von an sich positiven und hilfreichen Veränderungen zu einem Zusammenbruch der Autoritätsstrukturen einer Gesellschaft führen, wenn sie zu schnell und nicht auf die rechte Weise geschehe (Kraft 1996, 126). Von dieser Problematik sind Veränderungen, die die Stellung der Frau in einer Gesellschaft beeinflussen, besonders betroffen. Nach Kraft ist an dieser Stelle besondere Vorsicht geboten, da die meisten Völker sehr familienorientiert sind und klar definierte und selbstverständlich gelebte kulturelle Normen für die Rolle der Frau in Familie und Gesellschaft haben. Kraft rät Mitarbeitern im interkulturellen Kontext deshalb: „Debatten über Geschlechterbeziehungen sollten im Kontext einer gegebenen Kultur geführt werden“ (Kraft 1996, 324).
2.1.5 Kultur aus der Perspektive der Heiligen Schrift
Höchste Würde kommt den menschlichen Kulturen zu durch die Tatsache, dass Gott, der unabhängig von ihnen existiert, sich nicht über sie hinweg, sondern in sie hinein offenbart hat: Er richtete sein Wort in bestimmten kulturellen Ausdrucksformen an Menschen in spezifischen Kulturen, und Jesus Christus, das fleischgewordene Wort Gottes, wurde in eine bestimmte Kultur und Zeit hineingeboren, in deren Rahmen und nach deren Grundmustern sein Leben ablief. Gott gebrauchte Kulturen, um seinen Heilsplan durchzuführen. Gleichzeitig sorgte er dafür, dass kulturelle Faktoren seine Wahrheit nicht verzerren konnten.
2.1.5.1 Kultur und Schöpfung
Weil der Mensch Gottes Geschöpf und sein Ebenbild ist, reflektiert auch jede menschliche Kultur etwas von Gottes Schöpfermacht, Vielfalt und Güte (Willowbank Report 1981, 311). Als Ebenbild Gottes bekam der Mensch den Auftrag zur Herrschaft über die Schöpfung und zu ihrer Gestaltung (Gen 1,28). Dieser göttliche Auftrag muss als Ursprung aller menschlichen Kultur gesehen werden (Willowbank Report 1981, 311). Ihn in der Abhängigkeit von Gott auszuführen, ist Teil der Bestimmung des Menschen auf dieser Erde (Willowbank Report 1981, 312).
2.1.5.2 Kultur und Sündenfall
Seit dem Sündenfall ist der Mensch selbst und alles, was er tut, von der Sünde durchsetzt und verzerrt (Röm 3,9–23). Deshalb gibt es kein Kulturelement, das nicht zugleich den Missbrauch der Gottebenbildlichkeit ausdrückt (Nicholls 1981, 56). Der Mensch will nicht Gott verherrlichen, sondern sich selbst. Bereits in Genesis 3 und 4 zeigt sich, wie sich das auf das Zusammenleben von Menschen in einer Gesellschaft auswirkt (Nicholls 1981, 56). Allerdings ist es nicht nur der Mensch, der durch seine Sündhaftigkeit Kultur verzerrt und befleckt, sondern seit dem Sündenfall hat sich Satan selbst der menschlichen Kulturen bemächtigt und drückt ihnen als „Fürst dieser Welt“ seinen Stempel auf (Joh 12,31; 14,30; 16,11; 1Joh 5,19). Er verführt und blendet Menschen (2Kor 6,16; 2Kor 4,4) und ist mit dämonischen Mächten in den menschlichen Kulturen aktiv (1Kor 10,20). Kultur ist also aus geistlicher Sicht nicht neutral, sondern immer „ein eigenartiger Komplex aus Wahrheit und Irrtum, Schönheit und Hässlichkeit, Gutem und Bösem, aus der Suche nach Gott und der Rebellion gegen ihn“ (Nicholls 1981, 56).54 Somit muss erwartet werden, dass weder einzelne kulturelle Ausdrucksformen noch universale Gemeinsamkeiten ausschließlich von der Biologie des Menschen oder seinen Umweltgegebenheiten vorgegeben sind, sondern dass alles auch die Spuren der sündigen Natur des Menschen und satanischer Einwirkungen trägt.
2.1.5.3 Kultur und das Heilshandeln Gottes
Das Heilshandeln Gottes in dieser Welt hat von Anfang an alle menschlichen Volksgruppen im Blick (Gen 10; Gen 12,1–3). Zu seiner Konkretisierung in der Geschichte engt Gott sein Handeln zunächst auf eine einzige Nation, Israel, ein. Diese macht er zum Modellvolk, an dessen Menschen und Kultur er seine Herrlichkeit darstellen will (Ex 19,5–6). Nachdem er das Volk aus der Gefangenschaft in Ägypten gerettet hat, wo seine Kultur sich bisher entwickelt hatte, will er die Weltanschauung seines Volkes konkurrenzlos prägen (Ex 20,3) und das gesamte kulturelle Gefüge seines Lebens als Gottesvolk bestimmen (Ex 20–31). Aber Israel entfernt sich immer wieder von Gott und bringt das in seinem kulturellen Leben zum Ausdruck.55 So zeigt sich an diesem Volk modellhaft die Unfähigkeit gefallener Menschen und ihrer Kulturen, nach Gottes Maßstäben zu leben (Röm 3,19–20).
In Jesus Christus wird Gott selbst Mensch und integriert sich in die Kultur des Volkes Israel. Als einziger Mensch lebt er ungebrochen nach Gottes Maßstäben (Hebr 4,15; Joh 8,46) und verkündigt den Anbruch des Reiches Gottes in seiner Person (Mk 1,15). Durch sein Erlösungswerk am Kreuz erwirkt er den Menschen Vergebung ihrer Schuld (Eph 1,7) und den Eintritt in das Reich Gottes. Diese Erlösung gilt allen Menschen und Volksgruppen (Joh 3,16). Nach seiner Auferstehung sendet Jesus seine Jünger mit dem Evangelium zu allen Völkern dieser Erde (Mt 28,19–20).
2.1.5.4 Kultur und die Gemeinde Jesu
Aus denen, die die Erlösung im Glauben annehmen und damit in das Reich Gottes eintreten, entsteht eine neue, bisher nie da gewesene Einheit, die Gemeinde. Sie besteht nicht aus Menschen einer Kultur, sondern aus den Glaubenden aller Kulturen dieser Erde (Eph 2,11–3,6). Sie ist der Repräsentant des Reiches Gottes, also wiederum Modell einer „göttlichen Kultur“ in dieser Welt, deren Maßstäbe und Prinzipien Jesus selbst seine Jünger gelehrt hat (Mt 5–7). Zur Verwirklichung eines gottgewollten Lebens hat sie im Vergleich zum alttestamentlichen Gottesvolk eine neue Kraft durch den in ihr wohnenden Heiligen Geist (Eph 3,14–21). Dabei ist die Gemeinde Jesu ein „soziologisches Wunder“ (CIU 1997, 120):56 Sie ist gleichzeitig universal und lokal an vielen Orten dieser Erde, sie ist international und hat doch ein nationales Gepräge in jeder Nation. Sie ist interkulturell und doch trägt sie in jeder Kultur deutlich deren Züge. Sie unterstellt sich ganz ihrem Herrn Jesus Christus und fügt sich gleichzeitig in die jeweiligen Strukturen ihres kulturellen Kontextes ein (CIU 1997, 120). Dort hinein verkündigt sie das Evangelium und lädt Menschen unter die Herrschaft Gottes ein. Für die Glaubenden beginnt ein Prozess der Veränderung, bei dem durch eine von Gott erneuerte Weltanschauung alle Lebensbereiche nach den Königreichsprinzipien Jesu umgestaltet werden.
Dies kann vor den Augen