1.3.4 Die Einschätzung der Beziehung zwischen Gemeinde und Gesellschaft
Da die Frage nach Wesen und Rolle der Frau zugleich geistliche und gesellschaftliche Dimensionen hat, spielt im Hintergrund von hermeneutischen Entscheidungen zu diesem Thema auch die Einschätzung des Auslegers zur Position und Funktion der Gemeinde Jesu in ihrem sozio-kulturellen Umfeld eine nicht geringe Rolle. Bis zur Wiederkunft Christi steht seine Gemeinde in dem von Jesus selbst vorgegebenen Spannungsfeld „in der Welt“ (Joh 17,11), aber „nicht von der Welt“ (Joh 17,16). Einige Ausleger betonen nun das „In-der-Welt-Sein“ der Gemeinde. Ihnen ist das gemeinsame Menschsein von Christen und Nichtchristen als verbindendes Element wichtig, und sie halten den Kontakt und Austausch zwischen Gesellschaft und Gemeinde für fruchtbar, ja lebensnotwendig, um die Funktion der Gemeinde als Licht und Salz in dieser Welt zu gewährleisten. Andere dagegen betonen das „Nicht-von-der-Welt-Sein“ der Gemeinde und warnen vor den schädlichen Einflüssen des Zeitgeistes, die aus der säkularen Gesellschaft in sie eindringen. Von einigen wird die Gemeindestruktur als „Sozialordnung Gottes“ im Gegensatz zu der selbstbestimmten Sozialordnung der säkularen Gesellschaft (Clark 1980, 276) gesehen, von anderen wird die Gemeinde mehr als religiöse Institution der Gesellschaft eingeordnet (Hiebert 1985, 23). Was die Rolle der Frau angeht, neigen dementsprechend einige dazu, sich mit den Fragestellungen und Trends ihrer Gesellschaft diesbezüglich, also auch mit den Anliegen der feministischen Bewegung, ernsthaft auseinander zu setzen mit der Bereitschaft, sich auch selbst in manchem hinterfragen zu lassen. Andere bekämpfen alle Überlegungen der säkularen Gesellschaft hierzu als antibiblisch und Gefahr für die Gemeinde Jesu Christi. Für beide Vorgehensweisen gibt es in der Literatur reichlich Beispiele.39 Eine zunehmende Zahl von theologischen Forschern raten der Gemeinde Jesu, sich in der Frauenfrage der Herausforderung durch die Gesellschaft nicht sofort und grundsätzlich zu verschließen, da sie in ihrem Ursprung nicht nur aus antigöttlichen Quellen stamme, sondern gerade auch von kritischen Denkern und geistlichen Pionieren aus ihren eigenen Reihen ausgegangen sei (Bilezikian 1987, 421; Groothuis 1994, 159; Lees 1984, 11–12; Johnston 1986, 32).
1.3.5 Die Bewertung der Tradition
In der Auseinandersetzung um die schriftgemäße Rolle der Frau spielt auch das Verhältnis der Ausleger zur kirchlichen und gesellschaftlichen Tradition keine unerhebliche Rolle. So wird einerseits das traditionelle Frauenbild der Kirche als biblische Tradition, die über die Jahrhunderte gleichgeblieben sei und sich in Kirche und Gesellschaft bewährt habe, mit der Ordnung Gottes gleichgesetzt, die nicht irren kann (Culver 1989, 25–49).40 Auf der anderen Seite wird mit dem Blick auf die Kirchengeschichte die Irrtumsfähigkeit der kirchlichen Tradition aufgezeigt und vor einem unbiblischen Traditionalismus gewarnt, der das eigentliche Konzept der Heiligen Schrift zur Rolle der Frau verdunkele (Groothuis 1994, 38; Pierce 1993, 345).
1.4 Grundfragen zu Geschlechtsunterschieden
Außer den theologischen Spannungsfeldern spielt auch die wissenschaftliche Diskussion der Geschlechterunterschiede eine nicht zu unterschätzende Rolle im Hintergrund der Auseinandersetzung um die schriftgemäße Rolle der Frau. Vor allem in den Humanwissenschaften wird seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts intensiv über das Verhältnis zwischen dem biologischen und dem sozialen Geschlecht geforscht. Dabei bestand von je her Einigkeit darüber, dass das biologische Geschlecht das Sozialverhalten in irgendeiner Form beeinflusst. Wie stark und normativ dieser Einfluss jedoch ist, wurde und wird sehr unterschiedlich beurteilt. Während man bis fast zur Mitte des 20. Jahrhunderts von einem unlösbaren und unausweichlichen Zusammenhang zwischen der „natürlichen Veranlagung“ und der „natürlichen Rolle“ von Mann und Frau in der Gesellschaft ausging und der „unbeugsame Einfluss der Naturgesetze“ auf die jeweilige „naturgewollte Bestimmung“ beschworen wurde (Labhardt 1935),41 kam es danach in den Humanwissenschaften zunehmend zu einer gegenteiligen Einschätzung: Angesichts der von Anthropologen beobachteten großen kulturellen Vielfalt im Verhalten der Geschlechter im weltweiten Vergleich,42 wurden geschlechtsspezifische Verhaltensunterschiede fast vollständig als „soziale Konstruktion“ (Gildemeister 1988, 497)43 gesehen, die beliebig von Gesellschaften auch wieder „dekonstruiert“ und damit zum Verschwinden gebracht werden könnten (Bischof-Köhler 2004, 18). Neuere Erkenntnisse der Neurobiologie über den Einfluss von Geschlechtshormonen auf die Gehirnstruktur und -funktion von Männern und Frauen (Hines 2004), der Entwicklungspsychologie über die Signifikanz und Entwicklung geschlechtsspezifischer Verhaltensunterschiede (Maccoby und Jacklin 1974; Maccoby 1999) sowie der Anthropologie über die Universalität einiger geschlechtsspezifischer Verhaltensmuster in allen Kulturen der Welt (Rosaldo und Lamphere 1974) haben zu einem differenzierteren Bild geführt, und man geht seit den 1990er Jahren davon aus, dass „Natur und Kultur“ (Brednich 2001) bezüglich der Geschlechtsunterschiede in einem komplexen und vielschichtigen Verhältnis zueinander stehen, ja „sich wechselseitig durchdringen“ (Hartmann 2001, 23). Dabei wird biologischen Faktoren weiterhin ein mehr (Goldberg 1977; Baron Cohen 2004; Bischof-Köhler 2004) oder weniger (Maccoby und Jacklin 1974 und Maccoby 1999; Hines 2004; Rosaldo und Lamphere 1974; Hartmann 2001) prägender Einfluss zugeschrieben. Insgesamt setzt sich die Erkenntnis durch, dass die biologischen Geschlechterunterschiede gewisse Verhaltensdispositionen nahe legen, aber nicht vorschreiben oder erzwingen (Bischof-Köhler 2004, 27),44 und dass kulturelle Stereotypen dann verstärkend auf die Ausprägung bestimmter Geschlechterrollen einwirken (Bischof-Köhler 2004, 28–29). Einem biologischen Determinismus wird als „naturalistischem Trugschluss“ genauso widersprochen wie dem „moralistischen Trugschluss“, der Verneinung biologischer Einflussgrößen aus Angst vor einer Diskriminierung von Frauen durch die wissenschaftliche Diskussion (Bischof-Köhler 2004, 29–30).
In der konservativ-evangelischen Literatur zur biblischen Rolle der Frau kommen die oben genannten Unterschiede in der Beurteilung wissenschaftlicher Erkenntnisse deutlich zum Ausdruck. So geht z. B. W. Neuer von einer „fundamentalen wesenhaften Verschiedenheit“ der Geschlechter aus (Neuer 1993, 12) und sieht die Geschlechtlichkeit als ein „Sein, welches unser gesamtes Verhalten bestimmt“ (Neuer 1993, 21.35). Die Anweisungen des Paulus beschreibt er dann als moralische Konsequenzen aus diesem Sein.45 R. Groothuis, auf der anderen Seite, geht von der wesenhaften Gleichheit des Menschseins bei beiden Geschlechtern aus (Groothuis 1997, 19) Die biologischen Unterschiede werden als solche zwar wahrgenommen, ihr jeweiliger Ausdruck in der Sozialstruktur verschiedener Gesellschaften aber als flexibel angesehen. Die konkreten Anweisungen des Paulus zu Rolle und Verhalten der Frau werden dementsprechend in ihrem kulturellen Kontext belassen und nicht als normativ auf andere Kulturen übertragen (Groothuis 1997, 47).46
1.5 Zusammenfassende Bemerkungen
Aus dem Gesagten wird deutlich, wie vielschichtig und komplex die Spannungsfelder sind, die den Hintergrund für das kontroverse Ringen um ein Frauenbild bilden, das dem in der Heiligen Schrift ausgedrückten Willen Gottes im Kontext verschiedener Kulturen entspricht. Einigkeit in diesem Ringen unter den konservativen Forschern besteht in ihrer Hochachtung vor der Heiligen Schrift.47 Auch wenn die Positionen in allen genannten Spannungsfeldern festgefahren und unvereinbar erscheinen, gibt es aber auch immer Autoren, die diese Spannungsfelder für notwendig und dem Wesen der Beziehung zwischen Gott und den Menschen angemessen halten. Dementsprechend gibt es auch in der „Frauenfrage“ immer wieder Gelehrte, die sich auf ein erneutes Studium des Schriftbefundes aus unterschiedlichen Perspektiven einlassen und hilfreiche, klärende und auch versöhnende Gedanken zur Diskussion beitragen.48 Es bleibt die Hoffnung, dass die Gemeinde Jesu für diese kontroverse theologische Debatte, die so tiefgreifende Folgen für ihre Mitglieder hat, einen respektvollen Umgang mit den unterschiedlichen Sichtweisen und gangbare Wege für die Gemeindepraxis findet.
12 Siehe dazu Hardmeier (2013, 13–23), der seinen eigenen spannungsreichen Weg mit diesem Thema beschreibt, und Neuenhausen (2018, 7–12).
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