2.
Nachdem nun der Apostel die Furcht gesteigert hat, kommt er im folgenden auf die Gnade, und nachdem er ein großes Verlangen nach Sündenvergebung geweckt hat, sagt er:
V. 21: „Jetzt aber ist ohne Gesetz Gerechtigkeit von Gott geoffenbart worden.“ Etwas Großes spricht er hier aus, etwas, das einer langen Auseinandersetzung bedarf. Denn wenn die der Strafe nicht entgingen, welche unter dem Gesetze lebten, ja sogar eine noch schwerere Belastung davon hatten, wie kommt es, daß man ohne Gesetz nicht bloß der Strafe entgehen, sondern auch gerecht werden kann? Zwei Hauptpunkte stellt er hier auf: Gerechtfertigt werden und ohne Gesetz eines solchen Gutes teilhaftig werden. Darum sagt er nicht einfach „Gerechtigkeit“, sondern „Gerechtigkeit von Gott“; aus der Würde der Person macht er klar sowohl den größeren Wert des Geschenkes als auch die Möglichkeit, es zu gewähren; denn Gott ist ja alles möglich. Auch sagt er nicht: „sie wurde gegeben“, sondern: „sie wurde geoffenbart“; damit vermeidet er den Vorwurf, daß es sich um etwas Neues handle. „Geoffenbart“ besagt nämlich, daß etwas von früher her da ist, aber verborgen war und nun zur Schau gestellt wird. Doch nicht allein das, sondern auch die folgenden Worte drücken aus, daß es sich um nichts Neues handle. Nachdem er nämlich gesagt hat: „sie wurde geoffenbart“, fährt er fort:
„bezeugt vom Gesetz und den Propheten“
— Laß dich nicht dadurch beunruhigen, will er sagen, daß die Gerechtigkeit von Gott erst jetzt gegeben wurde, und laß dich nicht irremachen (durch die Meinung), als sei sie etwas Neues und Fremdartiges; haben von ihr ja doch Gesetz sowohl wie Propheten im voraus gesprochen. Zum Teil hat er es durch die vorausgegangene Auseinandersetzung klar gemacht, zum Teil will er es erst tun. Oben hat er den Habakuk angeführt, der da spricht: „Der Gerechte wird leben aus dem Glauben“ 97; weiter unten wird er Abraham und David uns dasselbe sagen lassen. Denn das Wort dieser Persönlichkeiten galt bei den Juden viel; war ja der eine Patriarch und Prophet, der andere ein König und Prophet, und beiden war die frohe Botschaft (von der Gnade im Neuen Testament) zuteil geworden. Darum tut auch Matthäus am Anfang seines Evangeliums beider zuvörderst Erwähnung, und dann erst führt er die Stamm- eltern nach der Reihenfolge auf. Nachdem er nämlich gesagt hat: „Buch der Abstammung Jesu Christi“, nennt er nach Abraham nicht gleich den Isaak und Jakob, sondern sofort nach Abraham erwähnt er David; dabei ist auffallend, daß er vor Abraham den David setzt, indem er so sagt: „des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams“; und dann beginnt er aufzuzählen den Isaak, den Jakob und alle die folgenden. Darum führt sie auch hier der Apostel ausdrücklich an und sagt: „Gerechtigkeit von Gott, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“. Damit aber niemand sage: „Wie sollen wir gerettet werden, ohne selbst dazu etwas mitgewirkt zu haben?“ zeigt er, daß auch wir nichts Geringes dazu beigetragen haben, ich meine den Glauben. Nachdem er also gesagt hat: „Gerechtigkeit Gottes“, fährt er fort:
V. 22: „Durch den Glauben für alle und über alle, die da glauben.“
Hier könnte wieder der Jude in Aufregung geraten, da er keine Vorzugsstellung neben den andern bekommt, sondern einfach der ganzen übrigen Welt beigezählt wird. Um dies zu vermeiden, schreckt ihn der Apostel wieder mit Furcht, indem er fortfährt:
*„Denn es ist kein Unterschied.“
V. 23: „Denn alle haben gesündigt.“ *
Sag’ mir also nicht: Der ist ein Grieche, der ein Skythe, der ein Thrakier. Wir befinden uns alle in derselben Lage. Magst du auch das Gesetz überkommen haben, so hast du aus dem Gesetze nur eins gelernt, (nämlich) die Sünde zu erkennen (d. h. zu erkennen, was Sünde ist), nicht aber, ihr zu entgehen. Damit die Juden ferner nicht sagen können: „Wenn wir auch gesündigt haben, so doch nicht so wie jene“, fährt er fort:
„und entbehren alle des Ruhmes vor Gott“
— Hast du auch nicht genau so gesündigt wie andere, so entbehrst du doch genau so des Ruhmes vor Gott; denn du gehörst einmal unter die, welche (Gott) beleidigt haben; solchen aber gebührt nicht Ruhm, sondern Beschämung. Aber fürchte dich nicht! Ich habe das gesagt, nicht um dich in Verzweiflung zu stürzen, son- dern um dir die Barmherzigkeit des Herrn kundzutun. Er fährt daher fort:
*V. 24: „Gerechtfertigt geschenkweise durch seine Gnade, durch die Erlösung in Christo Jesu“,
V. 25: „den Gott im voraus bestimmt hatte zum Sühnopfer durch den Glauben in seinem Blute zum Erweis seiner Gerechtigkeit.“ *
Beachte, durch wie vielfache Beweisgründe er das, was er gesagt hat, bekräftigt! Den ersten Beweisgrund nimmt er her von der Würde der Person; denn nicht ein Mensch ist der, welcher solches bewirkt, daß ihm die Kraft dazu fehlen könnte, sondern Gott, der alles vermag; von Gott ist ja die Gerechtigkeit, sagt er. Den zweiten nimmt er her vom Gesetz und den Propheten. Erschrick nicht, wenn du hörst „ohne Gesetz“! Denn im Gesetze selbst ist im Schatten dasselbe enthalten. Den dritten (Beweisgrund) nimmt er her von den Opfern des Alten Bundes; deswegen sagt er: „in seinem Blute“; damit erinnert er sie an die damals geopferten Schafe und Kälber. Denn wenn das Schlachten unvernünftiger Tiere, will er sagen, von Sünden lösen konnte, um wieviel mehr wird es dieses Blut imstande sein. Er sagt auch nicht einfach „Lösung“ (λυτρώσεως), sondern „Erlösung“ (ἀπολυτρώσεως) als wollte er andeuten, wir sollten nicht mehr in dieselbe Knechtschaft kommen. Auch „Sühnopfer“ nennt er ihn deswegen, weil er ausdrücken will, daß, wenn das Vorbild solche Kraft hatte, die Wahrheit dieselbe Wirkung in viel höherem Maße haben werde. Um wieder auszudrücken, daß es sich dabei um nichts Neues und Nie-Dagewesenes handle, sagt er, es sei „im voraus bestimmt“ gewesen; und zwar sagt er: „Gott hatte ihn im voraus bestimmt“, und zeigt damit an, daß es ein Werk des Vaters sei, in gleicher Weise aber auch eins des Sohnes. Der Vater hatte es im voraus bestimmt, und der Sohn hat das Ganze mit seinem Blute zur Vollendung gebracht. — „Zum Erweis seiner Gerechtigkeit.“ Was heißt: „Erweis der Gerechtigkeit“? Gleichwie (bei Gott) „Erweis seines Reichtums“ besagt, daß er nicht bloß selbst reich sei, sondern auch andere reich mache, „Erweis des Lebens“, daß er nicht bloß selbst lebe, sondern auch Tote zum Leben erwecke, und „Erweis seiner Kraft“, daß er nicht bloß selbst Kraft besitze, sondern auch Schwachen Kraft verleihe: so besagt „Erweis seiner Gerechtigkeit“, daß er nicht bloß selbst gerecht ist, sondern auch andere, die im Sündenelend liegen, im Augenblick gerecht machen könne. So deutet der Apostel selbst, was unter „Erweis“ zu verstehen sei, wenn er fortfährt:
V. 26: „damit er selbst gerecht sei und gerecht mache den, der den Glauben hat an Jesus.“
3.
Also nur nicht unschlüssig sein! Nicht aus den Werken (nämlich des alttestamentlichen Gesetzes), sondern vom Glauben (kommt die Rechtfertigung). Auch der Gerechtigkeit, die von Gott kommt, ja nicht ausweichen wollen! Denn zweifach ist das Gute an ihr, einmal daß sie leicht zu erwerben ist, und dann, daß sie allen zugänglich ist. Auch kein Sichschämen und kein Erröten! Denn wenn Gott selbst ankündigt, was er an dir tun will, ja wenn er sich, sozusagen, eine Ehre daraus macht und sich’s zum Ruhme gereichen läßt, warum sollst du dich dessen schämen und das zu verbergen trachten, was dein Herr sich zur Ehre rechnet? — Nachdem der Apostel also im Zuhörer den Mut gehoben hat, indem er das, was früher geschehen ist, einen Erweis der Gerechtigkeit Gottes nennt, drängt er wieder den, der lässig und säumig ist, zu kommen, durch Furcht dazu, indem er spricht:
„Wegen unserer eigenen Ohnmacht infolge der früher geschehenen Sünden.“
Beachte, wie der Apostel die Juden beständig an ihre Verirrungen erinnert! Oben sagt er: „Denn durch das Gesetz kommt die Erkenntnis der Sünde“;