Damit bringt er ihnen das in Erinnerung, was er früher über Unbeschnittenheit und Beschneidung gesagt hat; er hatte ihnen nämlich klar gemacht, daß zwischen beiden kein Unterschied bestanden habe. Wenn aber früher keiner bestanden hat, um wieviel mehr werden sie jetzt gleich sein? Diesen Gedanken will er nun noch klarer herausarbeiten; er zeigt nämlich, wie beide in gleicher Weise des Glaubens bedürfen.
V. 31: „Tun wir also das Gesetz ab“,
fährt er fort,
„durch den Glauben? Das sei ferne! Im Gegenteil wir machen es fest.“ Siehst du da des Apostels Klugheit, die auf so Verschiedenes bedacht ist, daß man es kaum sagen kann? Durch den Ausdruck „wir machen es (das Gesetz) fest“ zeigt er an, daß es nicht feststand, sondern in Auflösung begriffen war. Beachte dabei auch die überragende Geisteskraft des Paulus und mit welcher Geschicklichkeit er sein Ziel zu erreichen weiß! Hier tut er nämlich dar, daß der Glaube dem Gesetze nicht bloß nicht zum Untergange gereiche, sondern daß er ihm sogar eine Stütze sei, wie andererseits das Gesetz dem Glauben als Vorläufer diente. Denn jenes gab im voraus Zeugnis von diesem — „er war bezeugt durch das Gesetz und die Propheten“, heißt es ja — und dieser — der Glaube — machte jenes — das Gesetz — fest, da es im Wanken war. Wieso machte er es fest? fragt man. Nun, was war die Aufgabe des Gesetzes, und weswegen geschah alles (unter seiner Herrschaft)? Um den Menschen gerecht zu machen. Aber das brachte das Gesetz nicht zustande. Denn „wir waren Sünder allzumal“, heißt es. Der Glaube kam und vollbrachte es; denn wie einer glaubte, wurde er auch gerecht. Damit war des Gesetzes Zweck erreicht. Worauf alles im Gesetze hinauslief, das brachte der Glaube zur Erfüllung. Er hat es also nicht abgetan, sondern zur Vollendung geführt. — Drei Dinge hat also der Apostel hier dargetan: (Erstens,) daß es möglich ist, auch ohne Gesetz gerechtfertigt zu werden; zweitens, daß das Gesetz die Rechtfertigung nicht zuwege brachte, und drittens, daß der Glaube nicht im Widerspruch steht mit dem Gesetze. Weil gerade das letztere die Juden besonders beängstigte — der vermeintliche Gegensatz zwischen Glauben und Gesetz —, darum zeigt er mehr, als es der Jude wünschen kann, daß nicht nur kein Gegensatz bestehe, sondern daß beide — Glaube und Gesetz — einträchtig auf dasselbe Ziel hinarbeiten. Das hörten ja die Juden gerade gerne.
5.
Ein so großer Gnadenerweis, wie der ist, daß wir gerechtfertigt worden sind, erfordert aber auch einen Wandel darnach. Zeigen wir einen Eifer, wie er eines solchen Geschenkes würdig ist! Wir bekunden ihn aber, wenn wir die Mutter aller Tugenden, die Liebe, mit allem Eifer wahren. Die Liebe besteht nicht in leeren Worten, nicht in freundlichen Grüßen allein, sondern sie erweist sich darin, daß man durch Werke hervorleuchtet wie: die Armut lindern, den Kranken mitfühlend Dienste leisten, von Gefahren befreien, Bedrängten beistehen, weinen mit den Weinenden, sich freuen mit den Fröhlichen. Auch das letztere ist ein Liebeserweis. Man könnte meinen, es sei dies etwas Kleines, dieses Sichfreuen mit den Fröhlichen; und doch ist es eigentlich etwas Großes und erfordert die Einsicht eines Weisen; und wir werden viele finden, die Beschwerlicheres vollbringen, doch in diesem Punkte versagen. Viele weinen mit den Weinenden, sie freuen sich aber nicht mit den Fröhlichen, sondern vergießen Tränen, wenn andere sich freuen. Das ist aber Mißgunst und Neid. Es ist darum kein geringes gutes Werk, sich zu freuen, wenn sich der Mitbruder freut, sondern es ist größere Tugend als das erstere; ja, es ist nicht allein mehr als das Weinen mit den Weinenden, sondern sogar mehr als das Beistehen in Gefahren. Schon viele nämlich, die mit andern, die in Gefahr waren, sich selbst Gefahren unterzogen, empfanden Schmerz darüber, daß andere in Ehre und Ansehen standen. Das heißt, sich von Mißgunst beherrschen lassen. Und doch kostet jenes Mühe und Anstrengung, dieses aber nur einen inneren Akt des Willens. Trotzdem bringen viele, die jenes Schwerere vermögen, dieses Leichtere nicht zustande, sondern sie grämen sich ab und möchten vergehen, wenn sie mitansehen müssen, daß andere in Ehren stehen, wenn sie Zeuge sein müssen, wie der Kirche genützt wird durch Predigt oder auf irgendeine andere Weise 99. Kann es wohl etwas Verwerflicheres geben? Ein solcher kämpft übrigens nicht bloß gegen seinen Bruder an, sondern auch gegen den Willen Gottes. Bedenke das daher und mache dieser (Seelen-) Krankheit ein Ende! Tust du es schon nicht aus Wohlwollen gegen deinen Nächsten, so mache dich doch frei von tausend Übeln aus Wohlwollen gegen dich selbst! Was bringst du Krieg in deine Gedankenwelt? Was erfüllst du mit Aufruhr die Seele? Was entfesselst du einen solchen Sturm in ihr? Was bringst du alles drunter und drüber? Wie kannst du in solcher Verfassung um Nachlaß der Sünden bitten? Denn wenn Gott solchen nicht die Sünden vergibt, welche die gegen sie begangenen nicht nachsehen, wie wird er denen Verzeihung gewähren, die andern Unrecht zuzufügen trachten, die ihnen selbst keines angetan haben? Das ist ja doch ein Beweis äußerster Bosheit. Solche führen in Gemeinschaft mit dem Teufel Krieg gegen die Kirche. Ja sogar noch viel schlimmer ist so etwas; denn gegen den Teufel kann man auf der Wache sein; solche aber tragen die Maske der Freundschaft und legen heimlich Feuer an. Freilich stürzen sie sich dabei zuerst selbst hinein; sie leiden an einer Krankheit, die nicht nur kein Mitleid erregen kann, sondern eher zum Lachen herausfordert. Sag’ mir, warum weinst du bloß und zitterst und bist niedergeschlagen? Was ist Schreckliches geschehen? daß deinem Mitbruder Auszeichnung und Ehre und Ruhm zuteil wird? Solltest du dich da nicht bekränzen, dich freuen und Gott preisen, daß ein Glied von dir ausgezeichnet und geehrt wird? Aber nein, du grämst dich, daß Gott geehrt wird. Siehst du, wohin dein Krieg zielt? Aber nicht daß Gott, sagst du, sondern daß dein Bruder geehrt wird. Aber durch diesen geht ja die Ehre weiter bis auf Gott hinauf und folglich — auch der durch dich entfachte Krieg. — Aber nein, sagst du, das macht mich nicht betrübt, sondern ich möchte, daß Gott durch mich geehrt werde. Dann freue dich, wenn dein Bruder Ruhm genießt, und Gott wird durch dich (wiederum) geehrt, wenn nämlich alle sagen: Gelobt sei Gott, der solche Diener hat, die ganz frei sind von aller Mißgunst und sich gegenseitig freuen über das ihnen zuteil gewordene Gute! Doch was rede ich von Bruder? Wenn er auch dein Partei- und persönlicher Feind wäre, und Gott würde durch ihn geehrt, so müßtest du ihn dir eben deswegen zum Freunde machen. Du aber machst dir den Freund zum Feind weil Gott geehrt wird durch die Ehrung jenes. Wenn jemand deinen Körper von einer Krankheit geheilt hätte, der vorher dein Feind war, du würdest ihn hernach unter deine besten Freunde rechnen. Dagegen erachtest du einen, der früher dein Freund war als deinen Feind, weil er den Leib Christi, das ist die Kirche, verherrlicht? Wie könntest du auf eine andere Weise so deutlich zum Ausdruck bringen, daß dein Krieg Christus gilt? Darum wenn auch einer Wunder wirkte, wenn er auch ein jungfräuliches Leben führte, wenn er fastete, wenn er auf der bloßen Erde schliefe! und wenn er durch solche Tugend bis an die Engel hinaufreichte, so ist er doch, wenn er mit diesem Laster behaftet ist, ein größerer Verbrecher als alle und ein ärgerer Gesetzesverletzer als ein Ehebrecher, ein Hurer, ein Dieb oder ein Ehrabschneider.
6.
Und damit niemand meine Rede einer Übertreibung beschuldige, so möchte ich gerne eine Frage an euch stellen. Wenn jemand Feuer und eine Hacke nähme und dieses (Gottes-) Haus anzündete und den Altar zerstörte, würde ihn nicht jedermann von den Anwesenden mit Steinwürfen davonjagen als einen Verbrecher und Frevler? Was nun, wenn jemand eine noch gefräßigere Flamme als gewöhnliches Feuer — ich meine den Neid — hereinbringt, eine Flamme, die zwar nicht Häuser aus Steinen zerstört und einen goldenen Altar zernichtet, dafür aber etwas Kostbareres als die Mauern und den Altar zerstört und verwüstet, das von unseren Lehrern aufgerichtete (geistige) Gebäude, wie soll der einer Verzeihung würdig sein? Es wende mir niemand ein: Er versucht es öfter nur, bringt es aber nicht zustande. Nach der Absicht wird die Tat beurteilt. So hat auch Saul den David getötet, wenngleich es ihm nicht gelang. Bedenkst du denn nicht, frage ich, daß du den Schafen Christi nachstellst, wenn du dem Hirten Krieg ansagst, jenen Schafen, für die Christus sein Blut vergossen hat, und für die er uns (Hirten) alles zu tun und zu leiden befahl? Denkst du denn nicht daran, daß dein Herr deine Ehre gesucht hat und nicht die seinige, du aber nicht die Ehre deines Herrn suchst, sondern deine eigene? Und doch, wenn du seine suchtest, dann würdest du auch deine finden; suchst du aber deine statt seine, wirst du niemals auch jene genießen.
Welches Heilmittel gibt es nun dafür? — Wir wollen alle gemeinsam beten