Da sie etwas älter war als die anderen Mädchen, verhielt sich Evelyn Anna gegenüber ein wenig kühl und reserviert. Sie tat so, als wäre sie lieber mit jungen Erwachsenen als mit jungen Mädchen zusammen. Doch Margaret begleitete sie auf Schritt und Tritt und Anna liebte ihre Cousine einfach über alles. Im Grunde freute sie sich die ganze Woche darauf, Margaret wiederzusehen.
In vielerlei Hinsicht wurde Margaret für Anna zu einer Art Ersatzmutter. Sie redete mit ihrer jungen Cousine über das Leben, sprach mit ihr über Gott und die Welt. Margaret klärte Anna über Liebe und Sex auf. Margaret sprach mit ihr über Jungs und das Küssen und erzählte ihr, wer mit wem schlief. Anna war von Margarets Geschichten über ihre Verwandten und vom ganzen örtlichen Tratsch begeistert.
Im gleichen Jahr wurde dann auch Margaret von einem Jungen aus der Gegend schwanger. Darüber war sie sehr bestürzt und tat alles, was sie konnte, um ihren Körper dazu zu bringen, das in ihr wachsende Kind abzustoßen.
Anna war der einzige Mensch, dem Margaret von ihrem Dilemma erzählte. Noch heute erinnert sie sich an den letzten Tag, an dem sie Margaret lebend sah. Es war der Besuch, bei dem ihr Margaret auch von ihrer Schwangerschaft verriet. Margaret hatte gehört, dass, wenn man schwarzen Pfeffer mit heißem Wasser vermischt trank, dies eine Fehlgeburt auslöste, weshalb sie dieses fürchterliche Gebräu zu sich nahm und damit verzweifelt versuchte, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen.
Nach diesem Besuch ereignete sich ein sehr tragischer Vorfall. Margaret und Evelyn wurden, gemeinsam mit einer anderen Cousine namens Vela Evans, von einem Mann mit dem Auto zu einem Basketballspiel im Ort mitgenommen. Leider hatte der Mann sehr viel getrunken und seine Fahrtüchtigkeit war stark eingeschränkt. Als er die Spur wechselte, um ein langsames Fahrzeug zu überholen, fuhr er direkt in einen entgegenkommenden Diesellaster. Sowohl Margaret als auch Evelyn verstarben noch an jenem Abend.
Anna war bei den Hendersons, als das Telefon klingelte und sie die schreckliche Nachricht erhielt. Als sie es gesagt bekam, fiel sie in Ohnmacht. Bis dahin hatte sie immer angenommen, dass nur Weiße es fertigbrächten, ohnmächtig zu werden, wenn man ihnen eine furchtbare Neuigkeit überbrachte. Sie dachte, Schwarze nähmen Tragödien einfach als gegeben hin und kämpften sich tapfer durch alle Härten, die ihnen das Leben auferlegt. An jenem Abend entdeckte sie, dass der Körper eines jeden Menschen unter Schock kollabieren konnte. Als Anna von Margarets Tod erfuhr, spürte sie förmlich, wie ihr die Beine ihren Dienst versagten.
Anna war bei der Beerdigung von Opa Alex gewesen. Sie hatte gesehen, wie friedlich er in seinem Sarg lag – er hatte so ausgesehen, als wäre er in einen tiefen und wohlverdienten Schlaf gefallen. Doch Margarets und Evelyns Beerdigung zeigten eine andere, kältere und furchtbarere Seite des Todes. Da lag ihre geliebte Cousine Margaret in ihrem Sarg, ihr Kopf war durch den Unfall plattgedrückt worden und über ihr Gesicht verlief eine riesige Schnittwunde. Man hatte sich kaum bemüht, die Auswirkungen des Unfalls kosmetisch zu kaschieren – es war ein schrecklicher und herzzerreißender Anblick.
Anna sah sich ihre jungen und leblosen Körper an und schrie: „Margaret! Evelyn!“ Doch die beiden sollten für immer schweigen. Ein weiteres Mal hatte Anna eine wertvolle Lektion über das Leben gelernt und wie schnell es für manch einen zu Ende sein kann. Nun war ihre Halbschwester nicht mehr da und ihre Kusine Margaret hatte sie ebenfalls verlassen. Sie hatte das Geheimnis ihrer Schwangerschaft mit ins Grab genommen – nur Anna wusste davon.
Anna empfand die Ereignisse als sehr schmerzvoll und spürte eine innere Leere. Sie dachte, dass der Schmerz, den sie gefühlt hatte, als zuerst ihre Mutter und dann ihr Vater sie verließ, schon furchtbar gewesen sei. Doch das hier war noch viel schlimmer und wesentlich schmerzhafter – ein tiefer und bohrender Schmerz, der einfach nicht nachlassen wollte.
Das Jahr 1954 erwies sich als ein Jahr voller Veränderungen in Annas noch jungem Leben. Einige dieser Veränderungen gelangten über das Radio zu ihr. Zuhause gab es immer ein Radio und Anna sah sich auf der anderen Seite des Äthers mit einer völlig anderen Welt konfrontiert. Sie und Alline hörten sich immer die Hörspielreihen an, die gesendet wurden. Sie weiß noch, dass sie sich die Gruselserie Inner Sanctum und die Krimireihe The Fat Man anhörten. Alline und sie kochten sich dann auf dem Herd immer eine Süßkartoffel (ohne etwas dazu) oder machten sich in einer Bratpfanne Popcorn und setzten sich danach hin und hörten sich die Sendungen an. Es gab keine Softdrinks oder Kekse, lediglich ein Glas Wasser, eine Süßkartoffel und etwas Popcorn. Beim Radiohören hielt ihre Fantasie sie stundenlang beschäftigt. Ihre Großeltern hörten sich im Radio oft Country- und Westernmusik an, wodurch Anna auch verschiedene aktuelle Musikrichtungen kennenlernte.
In jener Zeit wuchs und veränderte sich die Welt der Unterhaltungsmusik. Der Bigband-Swing-Sound der 1940er hatte sich in neue Musikformen verwandelt. Jazz und Blues waren von Rhythm & Blues und einer neuen Art von schneller, von Gitarren dominierter Musik, die man schließlich als „Rock & Roll“ bezeichnete, abgelöst worden. Anna erinnerte sich, wie LaVern Baker voller Inbrunst den Song „Tweedle Dee“ und Faye Adams „Shake A Hand“ sang. Und auch an den Sound von B.B. King und seiner Gitarre, die er auf den Namen „Lucille“ getauft hatte. Anna lernte den gesamten Text von „Tweedle Dee“ auswendig und sang das Lied dann immer laut vor.
Vom Herbst 1954 an begann die vierzehnjährige Anna auf die Lauderdale High School in Ripley, Tennessee, zu gehen. Das war eine völlig andere Welt. Wenn sie sich umschaute, sah sie die Mädchen, die älter als sie waren, mit ihren schönen Kleidern und den wohlgeformten Körpern, die darin steckten. Dadurch fühlte sie sich nur noch mehr fehl am Platz. Sie kam sich vor wie eine Fremde, die ein unbekanntes neues Land betrat.
Anna unterzog ihren Körper einer kritischen Betrachtung und fühlte sich danach noch unwohler: „In meiner Jugend war ich spindeldürr. Ewig lange Beine und nichts dabei, was Schwarze wirklich anspricht. Dazu muss ich vielleicht erklären, dass die Schwarzen in der Schicht, aus der ich damals kam, beleibtere Frauen bevorzugten.“ (5)
Die Mädchen auf ihrer High School hatten Kurven, volle Lippen und wohlgeformte Beine. Wenn sich Anna im Spiegel anschaute, bemerkte sie, dass sie nichts von alledem vorzuweisen hatte. „Das war damals in meiner frühen Jugend alles nicht so toll“, erinnert sie sich, „denn ich fand mich selbst viel zu dünn. Nichts war irgendwie am richtigen Platz.“(12)
Doch auf der Lauderdale High eröffnete sich für Anna eine komplett neue Welt. Da Anna großes Interesse daran hatte, Neues kennenzulernen, entdeckte sie alle möglichen Aktivitäten, an denen sie Gefallen fand und bei denen sie mitmachte. Da die Basketballmannschaft ihrer Schule das Spitzenteam der ganzen Gegend war, waren die Basketballspiele immer sehr aufregende Ereignisse. Anna trat deshalb dem Cheerleader-Team ihrer Schule bei.
Während ihrer Zeit als Cheerleader lernte sie ihre erste große Liebe kennen. Er spielte im Basketballteam der Carver High School in Brownsville, einer der mit der Lauderdale High konkurrierenden Schule. Als Lauderdale gegen Carver spielte, entdeckte sie ihn auf dem Basketballfeld. Es war Liebe auf den ersten Blick. In Annas Augen sah er unheimlich gut aus. Er hatte tolle Zähne, einen athletischen Körper und ebenmäßige dunkle Haut. Im gegnerischen Team trug er die Spielernummer 9.
Anna wollte unbedingt herausbekommen, wer er war. Sie ging deshalb hinüber zu einem der Trainer der Carver High-Mannschaft und erkundigte sich, wer denn die Nummer 9 sei. Der Trainer lief daraufhin einfach zu dem Spieler Nummer 9 hinüber und kam mit ihm im Schlepptau zu Anna zurück. Sie war selbst überrascht, wie bestimmt sie gehandelt hatte.
Wie sich herausstellte, war die Nummer 9 der Kapitän des Basketballteams der Carver High. Er hieß Harry Taylor. Tina zufolge funkte es sofort. Jedoch war ihre erste Begegnung nur von kurzer Dauer. Harry weiß noch, wie er – in der Hoffnung, er könne mit Anna sprechen – in einer Spielpause auf die Seite des gegnerischen Teams hinüberging. Doch als er dort ankam, war sie bereits weg.
Leider war Anna nicht die einzige Cheerleaderin ihres Teams, auf die Harry ein Auge geworfen hatte. Annas