Sie stimmt die Strophen einer Partyhymne aus den 1970ern an und ist in ihrem Element. Als die Zuschauer unisono aufgeregt losjubeln, strahlt sie über das ganze Gesicht. Das sich über mehrere Ebenen erstreckende Bühnenlabyrinth aus Plattformen und Treppen nutzt sie den Abend über voll aus und ist die nächsten zwei Stunden permanent in Action. Wenn sie hinunter auf die Hauptbühne tanzt, vergisst sie keinen einzigen Schritt ihrer ausgefeilten Choreografie, bei der auch ihre fünf Tänzerinnen ihr Können unter Beweis stellen.
Schon in den ersten Minuten ihrer Bühnenshow ist Tina unbestritten der Star des Abends. Alle Blicke ruhen auf ihr und sie strahlt die ganze Zeit, in der sie im Rampenlicht steht, Wärme und Begeisterung aus. Das heutige Programm nimmt uns mit auf eine Zeitreise durch Tinas Vergangenheit und Gegenwart. Zu hören sind auch Songs wie „Fool In Love“ und „Proud Mary“ aus den Zeiten, als sie noch die eine Hälfte des Duos Ike & Tina Turner war. Außerdem singt sie die Hits ihrer Filmkarriere: „Acid Queen“ und „We Don’t Need Another Hero“. Ihr phänomenales Comeback Mitte der 1980er wird mit Liedern wie „Private Dancer“ und „What’s Love Got To Do With It“ gefeiert. Von ihrem aktuellen Album sind als Highlights Songs wie „Absolutely Nothing’s Changed“ und „Twenty Four Seven“ mit dabei.
Die heutige Show ist mehr als nur ein normales Konzert, sie ist ein ergreifendes Rock & Roll-Spektakel mit einem ausgefeilten Bühnenaufbau, grellen Lichteffekten, beeindruckenden Songdarbietungen und wartet darüber hinaus mit so einigen Überraschungen auf. Als eine der theatralischsten Nummern erweist sich Tinas Version des Motown-Klassikers „I Heard It Through The Grapevine“. Bei diesem Song brechen die einzelnen Plattformen des Bühnenaufbaus auseinander und geben den Blick frei auf ein simuliertes Flammenmeer, das auf riesigen Videoleinwänden vor sich hin lodert. Tina und ihre Tänzerinnen kommen herausstolziert. Alle sind sie in schwarzes Nietenvinyl gekleidet und wirken wie Rockerbräute auf Beutefang. Und natürlich ist die resolute Ms. Turner die Anführerin dieser Rockergang.
Am Ende von „We Don’t Need Another Hero“ löst sich die Plattform, auf der sie steht, plötzlich von der zweiten Bühnenebene und Tina wird auf einer etwas merkwürdig anmutenden Vorrichtung, die eine Weile in der Luft schweben bleibt, auf die unterste Bühnenebene hinuntergelassen. Als sie dort ankommt, geht ein Feuerwerk los – ein theatralisches Spektakel aus Flammen und Licht.
Während sie in einem sexy aussehenden, mit weißen Fransen verzierten Hosenanzug „Nutbush City Limits“ singt, tanzt Tina einen Gang entlang, hin zu etwas, das wie ein kleiner Käfig mit hüfthohen Gitterstäben aussieht. Plötzlich schwenkt der gesamte 15 Meter lange Laufsteg aus und befindet sich nun über den Köpfen in den ersten drei Dutzend Zuschauerreihen. Jetzt ist sie nicht mehr nur der Mittelpunkt der Party, sondern schwebt auch noch sechs Meter über ihrer Festgesellschaft. Die Menge bricht in Begeisterungsstürme aus. Sie singt weiter und läuft den Laufsteg hinunter zur Bühne hin – ohne Geländer und in gefährlich hohen Pumps. Nichts für Diven mit Höhenangst. Aber Tina hat schließlich ihr gesamtes Leben in gefährlichen Höhen verbracht. Diese Frau ist einfach unbesiegbar. Nicht einmal Rockstars, die vierzig Jahre jünger sind, können es mit ihr aufnehmen.
Es geht nicht allein darum, mit großer Leidenschaft heiße Rocksongs zu singen, möglichst viel Energie in Tanzeinlagen zu investieren oder mit den tollsten Lichteffekten aufzuwarten. Wenn diese Rock & Roll-Diva auf der Bühne steht, passiert noch viel mehr. Sie strahlt Herzenswärme, Aufrichtigkeit und Entschlossenheit aus. Tina Turner macht nie etwas nur auf die nette, seichte Tour, immer bringt sie auch eine gehörige Portion Rauheit mit ein – so lieben sie ihre Fans. Sie lieben sie genau aus diesem Grund. Seit sechs Jahrzehnten gelingt es ihr, ihre Zuschauer weltweit in Staunen zu versetzen. Keiner der heute Anwesenden will deshalb, dass dieser Abend zu Ende geht, denn dies bedeutet nicht bloß das Ende eines Rockkonzerts, sondern gleichzeitig auch das Ende einer ganzen Ära von Rockspektakeln.
In der Welt des Showbusiness gibt es niemanden, der mit Tina Turner vergleichbar wäre. Natürlich gab es auch andere Frauen in der Musikwelt, deren Karriere lange währte, aber nur wenigen ist es gelungen, eine so energie- und spannungsgeladene Stimmung zu verbreiten und so viel Begeisterung zu wecken wie das bei Tina der Fall ist.
Auch andere Frauen, deren Karriere von der Öffentlichkeit mitverfolgt wurde, haben in ihrem Leben so manches Unglück und tragische Ereignisse überstanden. Doch Tina befreite sich mit einer solchen Würde und Spiritualität aus ihrem von Unterdrückung und Erniedrigung geprägten Leben mit Ike Turner, dass sie für viele zu einer Art Vorbild wurde.
In den 1960ern und 70ern waren Tina und ihr damaliger Mann Ike zu Legenden des Rhythm & Blues und Rock & Roll geworden. Zu ihren zahlreichen Hits gehörten „It’s Gonna Work Out Fine“, „River Deep – Mountain High“ und „I Idolize You“. In der Musikwelt waren sie bekannt für ihre ausgiebigen Clubtourneen rund um den Globus. Sie wurden schließlich gar zu wahren Superstars, was sie vor allem den ausgedehnten Tourneen als Vorgruppe der Rolling Stones verdankten. Tina galt als der Star und die treibende Kraft der Bühnenshow und Ike als genialer Kopf des Duos. Sehr oft wurden sie in den Medien als glückliches, sich liebendes Ehepaar dargestellt.
Wenn man den Texten aus Tinas Songrepertoire der 1970er Glauben schenkt, wie z.B. dem von Ike komponierten „Contact High“, oder Tina als Drogenguru „Acid Queen“ in dem Film Tommy sieht und dies für bare Münze nimmt, könnte man meinen, sie habe den Drogenkonsum befürwortet oder sei eine wilde Partylöwin gewesen.
Wenn man sich anhört, wie sie absolut überzeugend Songs wie „Fool For You“, „Poor Fool“ und „It’s Gonna Work Out Fine“ sang, könnte man dies ohne Weiteres für Liebesbekundungen von Tina an ihren liebevollen Ehemann Ike halten. Und wenn man Gelegenheit bekäme, sich Ikes & Tinas Showprogramm zu Beginn der 1970er anzusehen, wie sie das Lied „I’ve Been Loving You Too Long“ zum Besten gaben, bei dem Tina mit ihrem phallusartigen Mikrofon Fellatio simulierte, könnte man vielleicht auf die Idee kommen, sie sei so eine Art hemmungslose Sexgöttin gewesen.
Abend für Abend wirbelte sie über die Bühne und zeigte Tanzeinlagen mit schnellen Schrittkombinationen, bei denen ihrem Publikum allein vom Zuschauen schon schwindlig wurde. Tina strotzte nur so vor Energie, so dass man sie für den Inbegriff der absolut befreiten Frau halten mochte, die ihr aufregendes Leben als Star in vollen Zügen genoss.
Doch die Wirklichkeit sah ganz anders aus. Keines dieser Bilder entsprach der Realität. Tina drückte es so aus: „Tina Turner – jene Frau, die auf die Bühne ging, war jemand anderes. Ich selbst war nur ihr Schatten.“ (1) 1976 war die echte Tina bereits in einer Ehe gefangen, die ihr Leben zur Hölle werden ließ. Das, was sie auf der Bühne als ihr Leben ausgab, war nichts als Show und das Leben hinter den Kulissen zur reinen Folter geworden.
Und die Drogen und die Partys? Nun, das war Ikes Leben. Tina nahm nie irgendeine Art von Drogen und wollte auch nichts damit zu tun haben.
Was ihre Ehe anging, so bestand diese nur auf dem Papier. Ike war ihr nie treu. Mehr als einmal war sie in ihr Wohnzimmer gekommen und hatte dort gesehen, wie eine Frau gerade vor Ike kniete und ihn oral befriedigte.
Ihr glückliches, freudenreiches Leben? Nichts hätte der Lebenswirklichkeit, in der sie gefangen war, weniger entsprechen können. Nicht genug, dass Ike sie wie seine Dienstbotin behandelte, die immer zur Stelle sein musste, wenn er nach ihr rief. Wenn sie ihn verärgerte oder sich beschwerte, verprügelte er sie gnadenlos. Mit der Zeit nahm Ikes exzessiver Drogenkonsum immer mehr zu und seine tätlichen Angriffe ebenfalls. Niemand – außer ihrem engsten Kreis – wusste, dass Ike Tina in Wahrheit total unter Kontrolle hatte, da sie sich vor ihm fürchtete.
Was das Kaschieren von „Veilchen“ mit Hilfe von festem Puder-Make-up anging, war Tina zu einer echten Expertin geworden. Oft trat sie mit aufgeplatzten Lippen, blauen Flecken oder gar mit gebrochenen Knochen vor jubelnden Zuschauermengen auf. Sie fühlte sich einsam und wie gefangen. Selbst ihr verzweifelter Selbstmordversuch misslang.
Doch dann machte sie eine Freundin mit etwas vertraut, das ihr zu innerer Stärke verhalf und sie dazu ermutigte, für sich selbst einzustehen: dem Buddhismus. Tina wusste jetzt, welche Spiritualität und Lebenskraft in ihr steckte. Nun beherrschte sie den buddhistischen Rezitationsgesang, war in der Lage, in