Ca. 80 km nordöstlich von Memphis, Tennessee, und etwa 30 km vom Mississippi entfernt an der Grenze zum Bundesstaat Arkansas liegt am Highway I-19 eine kleine Stadt inmitten von Baumwollfeldern. Dort gibt es einen kleinen Kurzwarenladen namens „Gause’s“ mit einer Zapfsäule vor der Tür, durch die Kraftfahrzeugfahrer angelockt werden sollen – und das ist auch fast schon alles. Tina Turner setzte der winzigen Stadt später mit ihrem Song „Nutbush City Limits“ ein Denkmal. Außer einer Kirche, einem Haus, in dem Baumwolle entkörnt wurde (einem sogenannten „Ginhouse“), einer Schule und einem Toilettenhäuschen gab es dort nicht viel. Dies war das Land der Egreniermaschinen und Whiskeydestillerien und es erscheint kaum als würdiger Geburtsort für eine Rock & Roll-Legende, doch hier kam Tina Turner her. Zu sagen, sie habe Nutbush zu großer Bekanntheit verholfen, wäre wohl etwas übertrieben, denn man muss den Ort auch heute noch auf der Karte quasi mit der Lupe suchen.
So bescheiden dieses Städtchen auch sein mag, so war es doch der Ort, an dem Tina aufwuchs. Am 26. November 1939 erblickte sie im Kellergeschoss des Haywood Hospitals – im 16 Kilometer von Nutbush entfernten Brownsville – das Licht der Welt.
Ihr Vater Floyd Richard Bullock war Laien-Diakon in der Woodlawn Baptist Church und wurde von allen „Richard“ genannt. Er lebte mit seiner Frau und der gemeinsamen dreijährigen Tochter Alline in einem „Shotgun House“ mit vier Zimmern, einer besonders für die Südstaaten typischen Art von Einfamilienhaus, das aus Holz gebaut war. Mit im Haushalt lebte außerdem die vierjährige Evelyn, die aus einer früheren Beziehung stammende andere Tochter seiner Frau Zelma. Richard arbeitete als „Aufseher“ auf der Pointdexter-Farm, auf deren Land ihr kleines Haus stand. Er überwachte für die weißen Farmeigentümer die dortigen Arbeiter.
Tinas Mutter Zelma Bullock hatte schwarze und indianische Wurzeln. Zelmas Vater war zu drei Vierteln Navajo, obwohl genau diese Ecke von Tennessee vor allem das Land der Cherokee-Indianer war. Und ihre Mutter war zu drei Vierteln Cherokee. Beide waren sie nur zu einem Viertel schwarz.
Allen Erzählungen nach war Zelma nicht gerade begeistert, als sie merkte, dass sie ein weiteres Kind erwartete. Sie war eine frustrierte junge Frau, die überhaupt nicht glücklich darüber war, noch ein hungriges Maul in der Familie stopfen zu müssen.
Das Kind, das später weltweit unter dem Namen „Tina Turner“ bekannt werden sollte, wurde als Anna Mae Bullock geboren. Anna Mae wuchs im Kreise vieler anderer Kinder und Familienmitglieder auf. Ihre Großeltern mütterlicherseits, Josephus und Georgianna, von denen sie ihre unverkennbar indianischen Züge erbte, wohnten ganz in der Nähe.
In einer Nebenstraße des Highway 19 lebten Richards Eltern Alex und Roxanna Bullock. Sie wohnten mit Annas Onkel Gill unter einem Dach. Er war das einzige der sieben Bullock-Kinder, das noch zu Hause wohnte. Zu ihrem Haushalt gehörten außerdem zwei ihrer Enkelkinder, Margaret und Joe Melvin Currie. Deren Vater, Richards Bruder Joe Sam, war kurze Zeit vorher verwitwet und konnte die Kinder nicht alleine großziehen. Margaret sollte Annas Lieblingscousine und eine heißgeliebte Freundin werden.
Das winzige Häuschen der Bullocks lag nicht weit entfernt vom Backsteinhaus ihrer weißen Arbeitgeber Ruby und Vollye Poindexter. Die Poindexters waren mit den Bullocks befreundet. Ruby liebte Zelmas Vanillepuddingkuchen und sie fühlten sich eher wie Verwandte als wie Arbeitgeber und Angestellte. Anna Mae erinnert sich noch daran, wie „einfach und selbstverständlich“ die Zuneigung war, die die Poindexters für einander zu empfinden schienen. Auch die Wärme und ganz offenkundige Liebe bei beiden Großelternpaaren zu Hause blieben ihr ein großes Rätsel. Dies war etwas, das irgendwie bei ihr daheim fehlte. Der Ton, der bei ihren eigenen Eltern vorherrschte, war alles andere als harmonisch, geprägt von ständigen Auseinandersetzungen und emotionaler Kälte. Schon früh lernte Anna Mae in sich selbst hineinzuschauen, um ihren Frieden zu finden. Bereits in ihren frühen Lebensjahren war sie damit vertraut, sich in ihrem eigenen Zuhause oft allein zu fühlen.
Liebte Zelma ihre jüngste Tochter Anna? Die erwachsene Tina meinte: „Nein. Ich war nicht gewollt. Als sie mit mir schwanger war, war sie gerade dabei, meinen Vater zu verlassen. Sie war eine sehr junge Frau, die nicht noch ein weiteres Kind wollte.“ (3)
Waren sie sich irgendwann einmal in ihrem Leben sehr nahe? „Nie“ behauptet Tina. „Schon als kleines Mädchen wusste ich, dass sie mich nicht lieb hatte. Als ich noch sehr jung war, fragte ich mich, warum wir einander nicht nah waren, aber ich war immer eine Eigenbrötlerin und dann stand ich irgendwann auf eigenen Beinen und mir war es egal.“ (3) Und doch liebte Anna ihre Mutter und hoffte, dass Zelma eines Tages anfangen würde, ihre Liebe zu erwidern. „Meine Mutter war nicht gemein zu mir, aber ihr fehlte die Wärme, sie war mir nicht nah.“ (4)
Sie erklärt dies so: „Meine Mutter war keine Frau, die Kinder wollte. Sie war keine richtige Mutter, sondern eine Frau, die Kinder bekam.“(5) Als Kind fand Anna trotzdem Dinge, die sie glücklich machten. Sie war viel allein und vertrieb sich die Zeit damit, durch die Felder von Tennessee zu streifen.
Auch von ihrem Vater fühlte sie sich nie geliebt. Ihr war bewusst, dass er sie nicht in seiner Nähe haben wollte. Durch die kleine Anna wurde er immer wieder schmerzvoll daran erinnert, dass seine Ehe sehr unglücklich war. Sie weiß noch genau, wie ihre Mutter und ihr Vater miteinander stritten. Im Ort gingen zudem Gerüchte um, Anna sei in Wirklichkeit gar nicht Richards Kind. Vor Annas Geburt lebten Richards Schwester Martha Mae und ihr Mann bei Richard und Zelma. Anscheinend hatte Martha Mae, als sie dort wohnte, eine Affäre mit einem anderen Mann. Aus diesem Grund gab es einige Leute, die dachten, dass in Wirklichkeit Zelma fremdging und Anna aus dieser Liaison heraus entstanden sei. Ob nun wahr oder erfunden – die Gerüchte trugen jedenfalls nicht gerade zur Verbesserung der Situation bei.
Liebe bekam sie zu Hause von ihrer Schwester Alline, die Anna ihrerseits ebenfalls immer sehr gernhatte. So lange Alline um sie war, war sie froh über ihre Gesellschaft. Allerdings empfand Anna Alline als „langsam“ und „still“, wohingegen Anna es liebte, durch die Felder zu rennen und mit den Tieren auf der Farm zu spielen.
Obwohl es in dieser Familie recht lieblos zuging, konnten die Bullocks in vielerlei Hinsicht dankbar für das sein, was sie hatten, vor allem, wenn man es mit den damals dort vorherrschenden Verhältnissen verglich. Tina erinnert sich noch daran, wie es bei anderen schwarzen Familien im Ort zu Hause aussah: Das ganze Haus war voller Kinder, man schlief auf schmutzigen und durchgelegenen Matratzen und es roch förmlich nach Schmutz. „Ich wusste, dass wir nicht arm waren“, erzählte sie später über das Leben in ihrem Elternhaus. (1)
Das Haus der Bullocks war sauber und aufgeräumt und sie wuchs in dem Wissen auf, wie es ist, ein harmonisch aussehendes und ordentliches Umfeld zu haben: „Wir hatten immer schöne Möbel und in unserem Haus sah es immer schön aus. Wir hatten unser eigenes separates Schlafzimmer und ein Esszimmer, und außerdem besaßen wir Schweine und andere Tiere. Ich kannte Leute, die das alles nicht hatten, und wusste um den Unterschied. Arm waren wir nicht.“ (6)
Tina lebte auf einer Farm und erinnert sich noch gern an das herzhafte Farmer-Essen ihrer Kindheit. Das Frühstück bestand für gewöhnlich aus gepökeltem Schweinefleisch, Keksen und Sirup. Im Garten der Bullocks wuchsen Zwiebeln, Tomaten, Rüben, Süßkartoffeln, Kohl und Wassermelonen. Sie hatten viele Hühner, die Eier legten, und die frische Milch stammte von ihren eigenen Kühen. In den Weihern des Ortes konnte man im Frühling, Sommer und Herbst Barsche fangen. Im Winter gab es kein frisches Schweinefleisch, aber dafür viele Würste aus Schweinefleisch, die im Herbst hergestellt und dann eingelagert worden waren.
1942 begannen Richard und Zelma den Wunsch zu verspüren, die Farm zu verlassen. In der Großstadt Knoxville, Tennessee, Hunderte von Kilometern entfernt, gab es Arbeit. Richard boten sich Jobs auf dem Bau und Zelma konnte als Putzfrau in privaten Haushalten ihr Geld verdienen. Man beschloss, dass Anna und Alline bei ihren Großeltern leben sollten. Alline musste zu ihrer Oma Georgie und Anna zu Oma Roxanna und Opa Alex – der ein gewaltiges Alkoholproblem hatte. Anna war eifersüchtig, da sie auch bei ihrer Oma Georgie, ihrer Cousine Margaret und ihrem Cousin Joe Melvin leben wollte.
Tina hat noch Erinnerungen an die ersten Kontakte mit Musik in ihrer Kindheit. Oma Roxanna schleppte sie jeden Sonntagmorgen zur Kirche. Dort angekommen, bekam sie die