„Du bist Kai Michael Trollmann“, unterbricht ihn Helen mit klarer Stimme. „Geboren am 29. September 1981, derzeit dreiundzwanzig Jahre alt. Deine Mutter starb, als du zehn warst. Danach entwickeltest du dich zum Problemkind. Während der Schulzeit fielst du etliche Male durch undiszipliniertes Verhalten auf. Aber immerhin: Mit neunzehn schafftest du dein Abitur. Wenngleich mit Ach und Krach. Obwohl jeder wusste, allen voran du selbst, dass du leicht mit Bravour hättest abschließen können. Ein Jahr lang lagst du untätig deinem Vater auf der Tasche. Dann zwang er dich, den Hintern hoch zu kriegen. Du hast ein Studium begonnen: Literaturwissenschaft. Nach drei Semestern hast du umgesattelt. Germanistik. Immerhin für vier Semester.“ Sie löst eine Hand von der Pistole, hält mit der anderen aber weiter den Lauf auf Kai gerichtet. „Lernen ist nichts für dich. Du willst den Kopf für deine Poesie frei haben, wie du sagst. Also nimmst du an Poetry-Slams teil. In der hiesigen Szene bist du eine Art Lokalmatador geworden. Du giltst als Talent. Dein alter Herr nennt deine Texte minderwertiges Geseiere. Er hat dich vor die Tür gesetzt. Seitdem schlägst du dich mit Gelegenheitsjobs durch: Parkplatzwächter, Einkaufswagenschieber, Sargträger. Du wohnst in einer billigen Reihenhauswohnung am Stadtrand. Unterm Dach. Mit schimmeligen Wänden, abschüssigem Boden und defekten Leitungen.“
Kai kann nur vermuten, wie dämlich er in diesem Moment dreinschaut. „Welches Arschloch hat Ihnen das alles erzählt?“
„Jemand, der mir oft genug unter die Nase gerieben hat, wie dankbar man sein müsse, wenn es einem gut gehe.“
Als ihn eine Ahnung überkommt, braust der junge Mann mit einem Wutschrei auf. Helen umgreift die Waffe wieder mit beiden Händen, aber Kai bemerkt es kaum. „Der Alte hat Ihnen das gesteckt. Er schickt Sie, stimmt’s?“, knurrt er durch gefletschte Zähne und rammt Helen den Zeigefinger entgegen. „Sagen Sie dem Knauser, er kann mich mal! Seine Vasallen, die mag er herumscheuchen und schikanieren, wie er will. Seine Büroaffen und Spediteure und was da alles um ihn herumkreucht. Ich schaffe es auch ohne ihn. Weiß er eigentlich, dass ich neulich für einen meiner Texte einen Literaturpreis erhalten habe?“
„Möglich.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Tut aber nichts zur Sache. Er missbilligt deinen Plan, vom Schreiben leben zu wollen. Du weißt das und fühlst dich dennoch als Sieger, dem sich nun natürlich alle Türen öffnen werden.“
Kai blinzelt verwirrt, da sie seine üblichen Worte parodiert. „Ja-a. Und das wird auch so sein!“, schnauzt er in einem mauligen Ton. „Was soll ich mich denn anstrengen, wenn …?“
„Der Erfolg doch zu dir kommt, ja, ja. – Ist Quatsch. Dein Preisgeld wird schneller verbraucht sein, als du Mietmahnung sagen kannst.“
„Oh ja“, nickt Kai wild, „Sie kommen von ihm. Das ist eindeutig sein Vokabular. Hockt wie Rumpelstilzchen auf seinem Vermögen und spart sich die Herztropfen. Minderwertigkeitsgefühle und schlechtes Gewissen seiner Mitmenschen trimmen: Ja, an solchen Schikanen geilt er sich auf.“
„Dein alter Herr hat hiermit nichts zu tun. Er stirbt in einem Jahr an Krebs. Die Diagnose kennt er längst.“
Erneut hält Kai inne. Ihm ist, als sei sein Hirn ins Straucheln geraten.
Sein Vater ist nicht wirklich alt. Er hat zwar irgendwas mit Blutdruck, zu hoch, zu niedrig, was auch immer, aber davon abgesehen ist er fit wie ein Turnschuh. Wieso sollte er …? „Moment.“ Kai verengt die Augen. „Das ist ja mal eine ganz neue Methode.“ Mit in die Seiten gestemmten Fäusten beginnt er auf und ab zu gehen. „Zieht der alte Fuchs jetzt ernsthaft die ‚Oh, ich werde nicht mehr lange leben‘-Masche durch? Damit ich angekrochen komme und ihm das Händchen halte? Hält er mich für bescheuert? Sagen Sie dem Dreckskerl, er soll mir …!“
„Das kann ich ihm nicht sagen. Und du auch nicht. Du siehst ihn nie wieder.“
Kai stoppt seine zornigen Pendelgang. „Was?“
„Im nächsten Jahr bist du kaum hier. Du hast gehofft, der Staat würde dich übersehen. Aber ab Januar musst du in Flensburg antreten. – Blöde Sache.“ Es klingt, als bedaure sie diese Information tatsächlich. Sie hält die Pistole in Bauchhöhe, wirkt nahezu entspannt. Wie eine Kindergärtnerin, die einen Knaben beaufsichtigt, der gerade seine cholerischen fünf Minuten hat und seine Wut in die Bodenfliesen stampft. Aber nun steht der Junge wie vom Donner gerührt da, als habe sie ihm gerade erklärt, dass sie genau wisse, dass er heimlich pople und an sich herumspiele.
Da er nicht jeden Tag in seinen Briefkasten schaut, hat Kai den Einberufungsbescheid erst an diesem Sonntagvormittag dort gefunden. Und außer Holger, den er sofort anrief, um Dampf abzulassen, hat er niemandem von dem Wisch erzählt.
Diese Frau kann über seine Misere gar nichts wissen. Es sei denn … „Der Alte hat mich verpfiffen.“ Die Erkenntnis kommt mit einem gewaltigen Schub frischen Zornes. „Dem hab ich den Scheiß zu verdanken, oder?!“ Er verspürt das dringende Bedürfnis, irgendetwas zerstören zu wollen. Mit überschäumender Wut und bar jeglicher Vernunft tritt er gegen den eisernen Mülleimer neben der Bank. Es dröhnt metallisch und im Innern scheppert und knistert Unrat. Aber der Kübel ist so robust, wie man es von ihm erwartet. Der Schmerz lässt sich kurz Zeit, um Anlauf zu nehmen, dann knallt er Kai in die Zehen und explodiert. „Verficktnocheins!“ Mit verzerrtem Gesicht humpelt er umher und kann es nicht vermeiden, dass sich Tränen in seine Augen drücken. Er weiß genau, wäre Holger nun hier, er würde sich wiehernd am Boden wälzen.
Die Frau mit der Pistole bleibt ernst. Und als Schmerz, Zorn und Scham für einen winzigen Augenblick Kais Hirn aus dem Würgegriff entlassen, meint er in ihrem Blick etwas zu erkennen, was die Erinnerung an seinen Vater noch verstärkt.
„Ist ihm klar, was er mir damit antut?!“, ächzt er. Dann bricht ein verbittertes Kichern aus ihm heraus. „Natürlich weiß er das. Hallo, Kreiswehrersatzamt. Mein Sohn, dieser kleine Pisser, ist dreiundzwanzig. Da kann er doch noch eingezogen werden, oder? Na, und ob der tauglich ist! Nicht, dass das Land einen Rekruten übersieht.“
„Na ja, die Alternative, alten Leuten als Zivildienstleistender den Hintern abzuwischen, ist ja erst recht nicht dein Ding“, sagt Helen in ruhigem Ton.
Kai sieht sie an. Und plötzlich wird ihm bewusst, woran ihr Blick ihn erinnert: Es ist der Blick seines Vaters, als dieser ihn zum ersten Mal aus der Ausnüchterungszelle geholt hat. Als Kai, damals noch minderjährig, ein verkatertes Wrack mit Spuren von Erbrochenem auf der Front, von der Pritsche aufschreckte und seinen Vater in der Tür erkannte, hat Trollmann Senior kein Wort gesagt. Er sah seinen Sohn nur mit diesem seltsamen Ausdruck an, in dem kein Mitleid zu finden war. Auch kein Vorwurf, nicht einmal Missbilligung. Nur Befürchtung. Als ahne er, dass er sich nun gar nicht richtig verhalten konnte. Dass, wie auch immer er nun reagiere, dies nur die erste, aber längst nicht die letzte Enttäuschung sein werde, die er ertragen müsse. – Womit er schließlich recht behielt. Denn in den Folgejahren erfuhr Kai die gesamte Palette väterlicher Besserungsversuche: Moralpredigten, Ankündigungen von Konsequenzen und Sanktionen und so weiter. Dass er sie ausnahmslos ignorierte, kann man nicht behaupten. Denn im Gegenteil provozierte er sie sogar, nur um seinen Alten zu ärgern. Jenen enttäuschten Gesichtsausdruck, der ihn einst so sehr getroffen und verärgert hatte, ließ er tief in seinem Gedächtnis unter Trotz und Rebellion verschütten. – Und es irritiert Kai maßlos, dass ausgerechnet diese verrückte Frau es jetzt und hier geschafft hat, mit dem gleichen Blick allen Staub von diesem Erinnerungsrelikt zu fegen.
„Ich kann dir noch einiges mehr verraten“, sagt Helen leise. „Nach der Grundausbildung kommst du nach Niedersachsen. Ins Lager Munster. Panzergrenadierdivision. Ein übler Standort. Weit und breit nichts als Militär und Heidekraut. Du wirst dich von Offizieren, die nicht älter sind als du, zusammenscheißen und durch den Schlamm jagen lassen.“
„Warum erzählen Sie mir das?“ Kai stützt sich auf den Mülleimer, den er eben noch getreten hat. Den schmerzenden Fuß hält er auf die Ferse gestützt.
„Ich habe es oft genug erzählt bekommen.“ Da offensichtlich keine Gegenwehr zu erwarten ist, solange Kai wie ein ächzender Flamingo über dem Kübel steht und sie verständnislos anschaut,