Die erste Bahn. Markus Veith. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Veith
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783942672894
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sich auf, wobei er das Tuch in seine Hosentasche stopft, und wendet sich um. Die Decke verbirgt den oberen Teil der Rolltreppe. Es ist dieselbe, die er vorhin heruntergehetzt ist.

      ‚Das fehlt mir noch‘, denkt Kai grimmig, ‚dass mir jetzt auch noch irgendein Penner auf die Eier geht.‘

      Dann erkennt er Füße in hellen, absatzlosen Damenschuhen, die auf einer der stählernen Stufen langsam aus dem Oben ins Unten gleiten, und ist etwas beruhigter. Es sind sicherlich sieben Meter schräge Distanz bis zum unteren Absatz der Treppe. Gespannt beobachtet er, wie sich die Gestalt vervollständigt. Unwillkürlich zählt er die Sekunden.

      Eins. – Schwarze Hose.

      Zwei. – Knallroter, lackglänzender Mantel, mit Tropfen übersät.

      Drei. – Dunkle Umhängetasche über der Schulter.

      Vier. – Über der anderen Schulter zeigen sich die Enden eines Kopftuchs, im Nacken zusammengebunden.

      Fünf. – Sie ist groß, vollschlank wie Kai vermutet, denn der Gürtel umspannt straff die Manteltaille.

      Sechs. – Ihr Gesicht ist nur zum Teil zu erkennen. Eine große Sonnenbrille verdeckt die Augenpartie. Dennoch meint Kai zu sehen, wie sich ihre Miene hinter den dunklen Gläsern verhärtet, als sie den jungen Mann auf der unteren Ebene der Bahnstation erblickt. Mit den Händen umklammert sie die Träger ihrer Tasche.

      Sieben. – Kai spürt ein leichtes, aber unangenehmes Zirpen in seinem Hinterkopf. Wahrscheinlich vom Alkohol. Oder weil er sich zu ruckartig aufgerichtet hat. Oder wegen beidem.

      Acht. – ‚Immerhin kein Penner oder Junkie, oder sonst irgendein Freak.‘ Andererseits hat Kai absolut keinen Nerv, sich die nächsten Stunden mit der Zwangsgesellschaft einer ihm fremden Trulla abzuquälen, die ihn womöglich zulabert. „Zu spät!“, ruft er laut. „Die letzte Bahn ist schon weg!“

      Neun. – Seine Stimme, die selbst auf ihn fremdartig und unabsichtlich bedrohlich klingt, verhallt in der Station. Kai ist nicht entgangen, wie die Frau zusammenzuckte. Sie antwortet nicht. ‚Jetzt hat sie bestimmt Schiss. Wie kann diese dumme Kuh nur so unvorsichtig sein, nachts und zudem völlig allein einen Ort wie diesen aufzusuchen?‘

      Zehn. – ‚Hat vielleicht ebenfalls keine Kohle für ein Taxi. Und nun trägt die Treppe sie hinab zu einem potenziellen Vergewaltiger und Mörder, der aus einer Schnapspulle nuckelt und sie anschnauzt. Sicher überlegt sie gerade, gegen die Fahrtrichtung zurück nach oben zu hasten.‘

      Elf. – Die Frau bleibt reglos auf der abwärts gleitenden Stufe stehen. Und soweit er das beurteilen kann, lässt sie ihn hinter ihrer großen Brille nicht aus den Augen. Schließlich erreicht sie das Ende der Rolltreppe.

       Zwölf.

      „Haben Sie gehört? Die 102 ist längst weg!“

      ‚Nicht, dass sie Schiss bekommt und mir die Bullen auf den Hals hetzt.‘ Um sein Desinteresse an ihr zu zeigen, dreht Kai sich in die andere Richtung und verschränkt die Arme. Sicher würde sie nun auf der benachbarten Treppe gleich wieder nach oben fahren. ‚Hatte ich echt die Befürchtung, mir könne irgendein Penner auf die Eier gehen? Der Penner … das bin hier ich. Hiob würde darüber lachen.‘ Kai grunzt belustigt bei dem Gedanken, wie auch Holger sich kaputtlachen würde, wenn er ihm später von dem hier erzähle. Er lauscht auf hektische Schritte und das Starten der Aufwärts-Treppe. Doch nichts. Im Gegenteil: Hinter ihm verstummt das Dröhnen. Verwundert dreht er sich wieder um.

      Die Frau steht noch da. Zehn Meter von ihm entfernt. Am Fuße der nun reglosen Rolltreppe. Regungslos schaut sie zu ihm hinüber.

      ‚Wieso hat sie überhaupt eine Sonnenbrille auf? Nachts. Bei Gewitter!‘ Kai bemerkt, wie nun ihn eine vage Unruhe überkommt. Dann sieht er, wie sie verkrampft die Träger ihrer Tasche wringt. – Irgendwie erinnert sie ihn an eine Zeile aus einem alten Song: Just another fallen angel trying to get through the night. – Genauso sieht die Fremde aus: Wie ein gefallener Engel, der sich bemüht, die Nacht zu überstehen. Kai überlegt, von wem der Song war und wie der Refrain ging. ‚Lieber Himmel, das war in den Achtzigern, oder?‘ Aus seiner Erinnerung dringen kraftvolle Akkorde: ‚Step by step, one by one, higher and higher … Climbing Jacob’s ladder. Ja, genau. Huey Lewis & the News.‘ Er weiß noch, wie er damals mit einer anderen Zeile dieses Liedes sein Schuletui beschriftet hat und muss schmunzeln. ‚Hat sich was mit Jakobs Himmelsleiter. Hier gibt es nur Rolltreppen. Und just another fallen angel …‘ Da ist die Erkenntnis, dass jener weitere, auf den sich another bezieht, er selbst ist. Irgendwie beunruhigt ihn der Gedanke: Zwei gefallene Engel. Sie und er. Hier und jetzt.

      „Glauben Sie mir: Es kommt heute keine Bahn mehr!“, ruft er. „Das heißt, formell gesehen schon. Denn heute ist ja quasi heute.“ Er wedelt fahrig mit der Hand. „Könnte lang werden, hier zu warten. Die erste Bahn kommt erst um Viertel vor fünf.“

      „Ich weiß.“ Sie sagt es so leise, dass er ihre Worte kaum verstehen kann.

      Kai runzelt die Stirn. ‚Wenn sie es weiß, warum ist sie trotzdem heruntergekommen?‘

      Sie hat sich keinen Zentimeter von der Rolltreppe entfernt und starrt ihn weiterhin an, während ihre Hände die Träger ihrer Umhängetasche würgen. Womöglich eine Geste aus Verlegenheit, die Kai aber kirre macht. Er räuspert sich, mustert das Abbild des Fürsten auf dem Flaschenetikett, trinkt, schnalzt mit der Zunge, lehnt sich mit beiden Ellbogen auf die Knie, beginnt mit den Fersen zu wippen … und realisiert, dass er sich nun selbst in Verlegenheitsgebärden flüchtet. Dieses Glotzen zermürbt ihm die Geduld.

      „Tja, kaum zu glauben, was?“, sagt er laut und blickt zur Uhr empor. „So gut sehe ich nur um diese Zeit aus.“ Er rechnet kaum mit einer Entgegnung, eher mit betretenem Schweigen, hofft, dass sich die Frau endlich abwenden und gehen würde. Umso mehr verblüfft es ihn, als sie mit fester Stimme sagt:

      „Ja, kaum zu glauben: An so etwas Ähnliches dachte auch ich gerade.“

      Kai hebt die Brauen und wendet sich ihr zu. „Ernsthaft?“ Schwer vorstellbar, dass irgendeine Frau ihn in seinem Zustand attraktiv finden könnte: Mit benebeltem Blick, der Pulle in der Hand, eher auf der Sitzschale hängend als sitzend. Nach diesem beschissenen Tag. „Na, dann genießen Sie den Anblick mal noch die letzte halbe Stunde. Um ein Uhr verwandle ich mich zurück. In was, verrat ich nicht. Aber es wird Ihnen weniger gefallen.“

      Die Frau lächelt. Es ist ein seltsames Lächeln. Irgendwie süß und zugleich verbittert.

      „Witzig, was?“ Er erwidert das Lächeln. „Ja, ich bin ein richtiger Komiker. Vor allem an miesen Tagen.“ Er will gerade einen weiteren Schluck Korn nehmen, da spricht die Frau in rhythmischen Worten:

      „Von al-len Sei-ten zu-ge-schis-sen, wird man leicht zum O-ber-clown.“

      Er setzt die Flasche rasch ab, da er auflachen muss. „Wow! Der hat was. Ein Jambus, oder? Ist der von Ihnen?“

      Sie wirkt irritiert. „Von mir?“

      „Ja. Kann ich den verwenden?“

      „Das … wäre nicht gut.“ Eine nervöse Regung huscht über ihr Gesicht.

      „Ich werd ihn abändern, versprochen.“

      Ihr Lächeln ist verschwunden. Für einen Moment macht sie den Eindruck, als sei ihr ein völlig verrückter Gedanke gekommen. „Wäre es so leicht?“

      „Na klar.“ Plötzlich erscheint Kai ein Gespräch mit dieser Fremden nicht mehr gänzlich unsympathisch. ‚Wer abgedrehte Zitate kennt, kann kein allzu mieser Gesprächspartner sein.‘

      „Sie hatten auch ’nen miesen Tag, was?“, fragt er laut.

      Sie zuckt mit den Schultern, geht ein paar Schritte an die Bahnsteigkante heran. Ihre Absätze klackern auf den Bodenfliesen. „Die Anreise war … anstrengend“, sagt sie schließlich, während sie auf das Gleis hinunterblickt.

      „Was