Die erste Bahn. Markus Veith. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Markus Veith
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783942672894
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zu leben, dass sie aber auch von dir keine Askese verlange. Ihr schreibt euch Mails, telefoniert ab und zu, bekundet eure Liebe. Aber ihr habt auch dieses Abkommen: Solange ihr beide verhütet und sich keiner in jemand anderen verliebt, sei das für euch beide in Ordnung. Im Herzen wollt ihr euch treu bleiben. Und wenn das Jahr vorbei ist und Elena zurückkehrt, willst du nur noch ihr gehören. Na ja …“, sie wiegt den Kopf, „… das war dein ambitionierter Plan. Aber da wird nun nichts draus. Wenn Elena Ende Januar zurückkommt, wirst du bereits in Flensburg sein. Fünfhundert Kilometer entfernt. Das ist zwar näher als die USA und ohne Ozean dazwischen, aber die Dauer der Fernbeziehung hat sich dadurch plötzlich verdoppelt. Deine sexuelle Diät verspricht ein Fasten zu werden. Du wirst für eine lange Zeit in Kasernen hausen und nichts als Pappkameraden vor die Flinte bekommen.“

      Helen erzählt all das ohne Häme, auch nicht zynisch, sondern ganz sachlich.

      Kai ist auf sein Knie gesunken und kauert neben dem Müllkübel. „Wie …? Woher wollen Sie …?“ Mehr bringt er nicht heraus. Es ist, als habe diese Frau sein Dilemma, das ihn seit Erhalt dieses verfluchten Bescheids belastet und beschäftigt, aus seinen Gedanken abgepaust. In seinem Kopf rotieren die Synapsen, versuchen zu ergründen, woher sie diese Informationen erhalten haben könnte. Er hievt sich auf die Füße. Als er seine Zehen belastet, zischt er schmerzvoll und kneift die Augen zu. Als er sie wieder öffnet, starrt er in die auf ihn gerichtete Mündung. Er humpelt auf Abstand, obwohl er weiß, wie nutzlos das ist. „Was soll das alles?“, krächzt er.

      „Habe ich dir gesagt: Ich werde dich erschießen.“

      „Aber … wozu?“

      Sie verzieht den Mund. „Die Frage ist eher, weshalb ich dir den ganzen Kram vorher erklären soll. Was bringt es dir zu wissen, dass du dir die Bundeswehr hättest ersparen können, wenn du früher erfahren hättest, dass du Vater wirst?“

      „Dass ich … was?!“ Sie hätte Kai genauso gut in den Bauch schießen können, seine Reaktion wäre kaum weniger entsetzt ausgefallen. „Aber Elena … Sie war doch die ganze Zeit …“

      „Nicht Elena“, unterbricht Helen ihn. „Deine Geilheit gewinnt Oberhand. Obwohl“, sie stößt einen missmutigen Laut aus, „hättest du deine Hand mal machen lassen. Dann wäre ich nie deine Tochter geworden.“

      *klick.*

       Wieder macht die Zeit ein Foto fürs Archiv. Eine Sekunde, die der Vergangenheit erhalten bleiben sollte.

       ‚Zirpen‘, dachte Kai und horchte auf jenes unangenehme Gefühl, das ihm durch den Hinterkopf schmirgelte. Als würden mikroskopisch kleine Viecher mit scharfen Werkzeugen durch die Adern in seinem Genick und tief in sein Hirn krabbeln, sich dort ausbreiten, schleifen, und im Rhythmus seines Pulses eben dieses Geräusch machen.

       ‚Zirpen.‘ Menschen bringen dieses hochfrequente, schwirrende Geräusch mit warmen, trockenen Sommerabenden in Verbindung. Dabei sind es Insekten, die irgendwas aneinander reiben. Dennoch … irgendwie passte es.

       ‚Zirpen. Doch, es passt.‘ Es war nicht verwunderlich, dass er in dieser Situation in seinen Schriftstellermodus verfiel, der ihm vertraut war, mit dem er oft Formulierungen für alle möglichen Wahrnehmungen ausprobierte, um sie später in Texten zu verwenden. Nur sah es gerade jetzt nicht danach aus, als werde er jemals einen weiteren Text schreiben können.

       ‚Das Zirpen … der Zeit.‘ Wurde das Geräusch nicht auch in Filmen, meist Komödien, eingesetzt, wenn irgendjemand etwas sehr Dummes, Peinliches gesagt hatte, niemand darauf reagierte und eine unbehagliche Pause entstand? Nun, ihm war danach, laut aufzulachen, aber dieser auf ihn gerichtete, stählerne Anus verhinderte die komödiantische Wirkung.

       Aber der Vergleich stimmte.

      Dann ist die Sekunde vorbei.

      Um genau 01:16 Uhr.

      Kai lässt eine Hand vor seinem Ohr kreisen. „Bitte nochmal, ich hab da grad …“ Nein, die Situation ist einfach zu absurd. Er kann ein belustigtes Prusten nicht unterdrücken. „Total witzig: Ich habe gerade verstanden, Sie hätten mir erklärt, Sie wären meine Tochter.“

      Die Frau, die auffallend älter als Kai ist, verzieht keine Miene. „Mir wäre lieber, es wäre nicht so.“

      „Ach so. Ja, dann.“ Er beißt sich auf die Lippen und nickt bedächtig, als ein Verdacht zu ihm durchsickert. ‚Niemals ist diese Knarre echt. Dieser Hyäne reiß ich den Arsch auf.‘ Langsam schaut er empor. Sein Blick schweift die gerundete Decke entlang. – ‚Ja, da sind sie.‘ Er zählt vier Kameras. Zwei davon blicken in seine Richtung.

      „Okay, schön, ich’s hab kapiert.“ Frische Wut kocht in ihm auf. „Pfiffig gemacht. Man musste die Dinger gar nicht erst verstecken.“ Er nähert sich Helen. „Also, Vorschlag“, raunt er ihr mit geneigtem Kopf zu. „Ich stelle mich blöd und ziehe diesen Stuss mal spaßeshalber durch, ja? Ich setz mich ein bisschen mehr in Szene, damit eure GEZ-Zahler was zum Lachen haben, dann kommt Elstner, das olle Glasauge, die Rolltreppe runter, haut mir auf die Schulter, zeigt in die Linsen und lädt mich zur nächsten Sendung ein. Dann mache ich kurz Ho-ho-ha-ha-hi-hi, die Nummer ist im Kasten und dann haken wir den Scheiß ab. Alles klar?!“

      Er übersieht Helens irritierten Ausdruck. Stattdessen klaubt er die fast leere Flasche Korn vom Fliesenboden und nimmt einen Zug. ‚Die sollen eine gute Show bekommen.‘ Dann lässt er Mister Hyde von der Leine.

      „Menschmenschmensch!“, ruft er so laut, dass seine Stimme durch die Station hallt. Mit überdosierter Theatralik schreitet er den Bahnsteig entlang. „Ich habe eine Tochter! Juchu! Dann sollten wir uns wirklich duzen.“ Er lässt den letzten Schluck in seine Kehle fließen. Dann schmettert er die Flasche mit Wucht auf die Schienen. Noch während die Scherben umherklirren, wirbelt er zu Helen herum. „Meine Güte, bist du groß geworden!“, brüllt er mit einem bösartigen Grinsen. „Und alt! Hast mich sogar überholt! Wo hast du bloß die ganze Zeit gesteckt?“

      Helen ist anzusehen, dass sie seine Show noch nicht begreift. „Ich … ich komme aus der Zukunft.“

      Kai macht das unglaubwürdigste ungläubige Gesicht, das er hinbekommt. „Ernsthaft?“ Ein Glucksen holpert aus ihm heraus. Dann klatscht er sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. „Aber selbst-ver-ständ-lich kommst du aus der Zukunft! Woher sonst? Macht ja jeder. In der Zukunft stehen die Leute wahrscheinlich Schlange, damit jeder mal die Welt retten kann. Oder die Familie treffen. Oder beides. Weshalb sollte nicht auch meine Älteste mich besuchen, um ihren jungen Papa abzuknallen?!“

      „Hör auf!“ Helen ist sichtlich überfordert.

      „Auf gar keinen Fall! Von dieser Nacht werde ich noch meinen Enkelkindern erzählen. Oder wissen die’s schon?“

      „Hör auf damit!“ Die Pistole sackt ab, als sei sie tonnenschwer geworden.

      ‚Gleich habe ich sie‘, denkt Kai. Er fletscht sie an: „Wenn du genug hast, Frau Trollmann, dann mach deinem Namen Ehre und troll dich!“

      In ihrem Gesicht flammt plötzlich Entsetzen auf. „Sag das nicht“, keucht sie. „Du weißt nicht, wovon du da redest.“

      „Hey! Ich habe mit dem Scheiß nicht angefangen!“, brüllt Kai. „Du fuchtelst mit ’ner Knarre rum, erzählst mir diesen Science-Fiction-Quatsch und verlangst, dass ich ihn glaube! So betrunken kann ich gar nicht werden, Gnädigste!“

      „Nenn mich nicht …“, setzt sie an, doch er unterbricht sie.

      „Aber weißt du was: Erzähl weiter! Ich liebe Geschichten. Also, was kommt als nächstes? Zeit für den bösen Widersacher, oder?“ Er wendet sich der Rolltreppe zu und breitet die Arme aus. „Großes Kino! Der Alte, dieser Wichser, kommt die Treppe runter. Er stellt sich neben dich, seine Enkelin. Er verbiegt den Hals so …“ Kai imitiert ein Knacken, woraufhin er mit tonloser,