„Ach …“ Die Frau kann es nicht wissen, aber diese Antwort sorgt für eine Assoziation, die sofort Groll in ihm aufsteigen lässt. „Na, da haben wir ja was gemeinsam.“ Er hält die Flasche in ihre Richtung. „Auch’n Schluck?“
Die Frau zögert. „Besser nicht.“
„Okay.“ Er trinkt. Neuer Versuch. „Ich bin Kai.“
Sie nickt. „Helen.“
Er nickt ebenfalls.
Eine Pause entsteht.
„Und wie lief’s?“
„Was?“
„Das Treffen mit Ihrem Vater.“
„Schwierig …“ Helen räuspert sich und geht einige Schritte auf ihn zu. „Schwieriger als ich dachte.“ Sie spricht, als müsse sie jedes Wort zweimal überdenken. „Man wird sehen … was passiert … zukünftig.“
„Tja, Väter sind eine anstrengende Spezies. Das war immer so und wird immer so bleiben.“ Kai lehnt sich auf den Nachbarsitz. „Ich hab da auch so einen. Erst Mitte fünfzig, aber störrisch wie ein alter Esel. – Wie alt ist ihrer?“
Sie bleibt stehen, wenige Meter von seiner Bank entfernt. „Er … er hat nicht mehr lange zu leben.“ Ihre Stimme vibriert.
„Oh.“ Prompt weiß Kai nicht, wie er sich verhalten soll. Trostspenden und Mitleidsbekundungen sind nicht sein Ding. Bei seinem Job auf dem Friedhof erlebt Kai oft, wie Trauergäste den Angehörigen ‚Mein aufrichtiges Beileid‘ zumurmeln. Für ihn hört es sich meist wie Floskel an. Und hier wären diese Worte eh verfrüht und unangebracht. Er reagiert auf die ihm passabelste Weise: Er schüttelt die Flasche und lässt den Korn gluckern. „Wirklich keinen?“
„Nein. Danke“, sagt Helen zunächst und nagt an ihrer Unterlippe. „Das heißt … Moment.“ Mit entschlossenen Schritten geht sie auf ihn zu. „Gib her.“ Sie nimmt die Flasche aus seiner Hand und setzt sie in einer Weise an, die verrät, dass ihr diese Bewegung nicht fremd ist.
Kai zeigt ein anerkennendes Grinsen, während ein üppiger Schluck aus der Flasche verschwindet. „Wouh!“
Doch plötzlich verzieht Helen das Gesicht und setzt hustend ab. „Wie kannst du sowas trinken?“ Sie betrachtet das Etikett. „Das ist doch gar nicht deine …“ Sie verhustet den Rest und hält Kai die Flasche hin, als wolle sie einen vollen Müllbeutel loswerden.
Er nimmt sie entgegen. „Oh, sind wir schon beim Du? Werden Sie mal nicht übermütig. Für Onkel Otto hat die Kohle immerhin noch gereicht.“
„Oh, das … ich wollte nicht …“, versucht sie eine Entschuldigung.
Aber Kai winkt ab. „Ganz ehrlich? Um diese Zeit ist mir Höflichkeit völlig egal.“
„Um diese Zeit?“ Sie stößt ein leises Schnaufen aus. „Manches wird sich wohl nie ändern.“
„So?“ Er mustert sie irritiert. „Sie sagen komische Sachen, wissen Sie das?“
Kai merkt, wie die Wirkung des Alkohols ihm zu schaffen macht. Und er weiß, wie fatal sich das bei ihm auswirken kann. Er neigt dazu, aggressiv zu werden, wenn seine Trunkenheit über das Maß hinausgeht. Er wird keineswegs handgreiflich, nein, das nie. Aber streitsüchtig. Seine Rhetorik bleibt zwar wohlartikuliert, wird aber auch bösartig, zynisch und sarkastisch.
Holger, der bereits mehrfach diese Wandlung hat beobachten können, beschrieb es mal als Transformation zu einem verbalen Mister Hyde. Er hütet sich stets, Kai zu reizen, wenn dieser als Noch-Doktor-Jekyll ein gewisses Pensum intus hat und sich dem kritischen Level nähert. Wenn ihn dann jemand nervt oder gar reizt, kommt es vor, dass Kai diese Person mit einem sprachlichen Trommelfeuer zerschießt. Aus reinem Spaß. Und weil er weiß, dass er es kann. „Alter, ich bin froh, dich nicht zum Feind zu haben“, hat Holger mal gesagt. „Bei dir bekommen Sprengsätze eine neue Bedeutung.“
Noch nervt ihn diese Frau namens Helen nicht. Sie belustigt ihn sogar irgendwie. Aber wenn sie ihm jetzt krumm kommen sollte …
„Verrückt, nicht?“, murmelt sie nachdenklich und entfernt sich dabei einige Schritte zur Bahnsteigkante hin. „Da hat man jede Menge Zeit. Doch dann ist alles wie ausradiert. Alles, was man sich vorgenommen hat zu sagen. Oder zu tun.“
Der junge Mann mustert sie verkniffen.
„Ich habe immer geahnt, dass es nicht leicht sein würde, mich dir zu nähern. Aber so dermaßen schwer …“
‚Ach du Scheiße.‘ Eine Ahnung schießt Kai durch den Kopf. ‚Is ja irre! Will die etwa …?‘
Holger hat mehrmals behauptet, dass es diese Frauen geben soll. „Die sind halt einsam. Aber die gehen eben nicht wie wir in den Puff. Die machen sich nachts auf den Weg, um sich einen Typen aufzureißen, der ihnen annähernd nett erscheint. Mit dem bandeln sie dann an, um sich von ihm durchvögeln zu lassen. – Also, selbst erlebt hab ich’s noch nicht, aber …“
‚Oh Gott. Bin ich etwa ein annähernd netter Typ?‘ Der Gedanke erscheint ihm nahezu beleidigend. Doch dann wird ihm bewusst, dass die Option auch etwas für sich hat. Trotz allem, was heute geschehen ist. Oder gerade deswegen. Zumal er vorhin noch glaubte, der Penner zu sein. Und Kai hat eine Vorliebe für üppige Frauen. Auch seine Freundin hat enorm erotischen Rundungen, die seiner Definition von perfekt entsprechen. Und wie alt mochte diese Frau namens Helen sein? Anfang-Mitte dreißig? Kaum einzuschätzen, solange sie Brille und Kopftuch trägt. ‚Ihr Lächeln ist jedenfalls hübsch. Traurig irgendwie, bittersüß, aber hübsch.‘
„Es ist noch nichts geschehen“, murmelt sie. „Alles kann. Nichts muss. Es erscheint nur so unmöglich schwer.“
‚Sie weiß nicht, wie sie es anstellen soll’, vermutet Kai. Und er reagiert, ehe Skrupel ihn überkommen können. „Na ja, ich kann es Ihnen ja leicht machen.“
Sie blickt ihn irritiert an.
„Nun …“ Er grinst vielsagend. „Wir sind hier unter uns. Und Sie haben recht: Alles kann, nichts muss. Wir könnten reden. Aber wer redet schon um diese Zeit? Radiomoderatoren und Telefonseelsorge-Anrufer.“ Er stellt die Flasche auf dem Boden ab, erhebt sich von der Bank und ist froh, dass seine Beine noch Stabilität versprechen. „Wir könnten uns aber genauso gut … unterhalten.“ Er legt eine besondere Betonung in das Wort, wirft es aus wie einen saftigen Köder, dem sie bei Interesse nur folgen muss. Er nähert sich ihr. Sie weicht nicht zurück. „Ich bin sicher, wir finden etwas, womit … oder wie … wir uns gut unterhalten können. Zu zweit.“ Wenn sie Bock hat, wird sie anbeißen. Hat schon oft funktioniert. Und warum nicht mal in einer U-Bahn-Station? „Und schließlich“, fährt er fort, „weiß man ja nie, wie …“
„… so eine Unterhaltung endet“, vollendet Helen seinen Satz.
„Yeah“, grinst Kai. „Ganz genau.“
Helen löst die Hände von den Taschenträgern. „Du willst vögeln.“
Kais Grinsen wird unsicher. Eigentlich steht er darauf, wenn Frauen direkt sind. Normalerweise würde er nun ein scheinheilig charmantes ‚Wenn du mich schon so fragst‘-Schulterzucken zeigen. Aber Helen hat nicht gefragt. Sie stellte eindeutig fest. Und als sie ihre Erkenntnis wiederholt, Wort für Wort betont: „Du willst mich vögeln“, klingt darin eine Fassungslosigkeit, als sei sein Ansinnen das Abwegigste der Welt.
Dann beginnt sie zu lachen. Das Lachen schwappt förmlich aus ihr heraus. „Du willst vögeln.“ Sie wendet sich um, die Hände in die Seiten gestemmt. Die gewölbten Wände werfen ihr Gelächter zurück, das sich immer mehr steigert, als habe sie die Pointe verstanden, die die ganze Menschheit zu einem Witz macht. „Du! Mit mir!“
Helen so zu erleben ist bizarr: Verschwunden ist die schüchtern