Schließlich führte man sie in einen Saal, dessen Wände und Deckengewölbe vollkommen mit Mosaiken bedeckt waren. Vereinzelte Leuchtsteine verbreiteten ein kaltes bläuliches Licht. Gorian hatte davon gehört, dass diese Steine das Sonnenlicht in sich aufnahmen und in der Dunkelheit wieder abgaben.
Außerdem gab es Fackeln und Öllampen, deren flackerndes Licht sehr viel wärmer wirkte. In einigen Schalen brannte Weihrauch, der in großen Mengen mit Schiffen aus Margorea in Port Gryphenklau angeliefert und dann von Greifengondeln hinauf zum Palast geschafft wurde. Gorian hatte das in den letzten Wochen und Monaten oft genug beobachten können. Er hatte im Hafen mal jemanden gefragt, was es denn damit auf sich habe – einer seiner ersten Versuche, eine Unterhaltung in Gryphländisch zu führen und ohne den Sprechstein auszukommen, denn dessen Magie mochte im Basilisken-Reich etwas Alltägliches sein, aber im Reich der Greifenreiter verwirrten die wispernden Steine einen Gesprächspartner.
Man hatte Gorian auf seine Frage hin geantwortet, dass der Geruch von Weihrauch den Tod fernhielte. Der ungeheure Weihrauchbedarf des Palasts war offenbar auf die Krankheit der Königstochter zurückzuführen. König Demris Gon vertraute wohl nicht allein den Künsten des Heiler Aarad, sondern versuchte jedes Mittel, dessen Wirkung zumindest nicht vollständig widerlegt war.
Demris Gon saß auf einem Thron, der aus dem Schnabel eines Greifen errichtet war. Sein Gesicht war so grau wie sein Bart. Seine Gemahlin Temsora Gon hatte ebenfalls einen Greifenschnabelthron, doch der war unbesetzt, und das schon seit Jahren, wie man hörte. Die Königin hatte sich aus Kummer über den Gesundheitszustand ihrer Tochter schon seit langer Zeit nicht mehr bei offiziellen Anlässen gezeigt, sondern sich vollkommen zurückgezogen. Angeblich stand sie unter dem Einfluss eines Predigers, der sie glauben machte, nur stete Bußgebete zum Verborgenen Gott könnten ihre Tochter noch retten und jegliche Heilkunst wäre ansonsten vergebens.
Rechts und links des Doppelthrons hatten die beiden Söhne des Königs Platz genommen. Demris Gon hatte ihnen beiden seinen eigenen Namen vererbt, was die Unterscheidung bei der Anrede etwas schwierig machte. Deswegen sprachen die meisten auch nur vom Älteren und vom Jüngeren Prinzen. Welcher der beiden einmal König werden würde, war bislang offen, und es war kein Geheimnis, dass beide erbitterte Kontrahenten waren, die sich gegenseitig in Wahrheit den Tod wünschten.
„Seid gegrüßt, edler Herrscher Gryphlands und Verteidiger des Glaubens an den einzig wahren und wahrhaftigen Gott“, sagte Aarad in fließendem Gryphländisch. „In meiner Begleitung befinden sich jene Gäste, von denen ich schon sprach und die vielleicht unsere letzte Hoffnung sind, dem drohenden Unheil aus dem Norden zu widerstehen.“
Demris Gon hob die Augenbrauen. „So, sind sie das? Welch größeres Unheil könnte mir noch widerfahren, als mir bereits zuteil wurde.“ Er seufzte laut. „Manchmal entsetzt mich selbst das Maß an innerer Gleichgültigkeit, das die Nähe des Todes erzeugt.“
„Mit Verlaub, angesichts der großen Bedrohung, die ganz Ost-Erdenrund heimsucht, werden wir uns keine Gleichgültigkeit erlauben können“, ergriff Thondaril das Wort. Er benutzte dabei den Sprechstein der Basilisken, und dessen Gewisper erstaunte offenbar sowohl den Jüngeren als auch den Älteren Prinzen, auch wenn sie sonst vieles trennen mochte.
„Aarad hat mich ausführlich über die Geschehnisse informiert, die sich im Heiligen Reich zugetragen haben, und ich bin erschüttert über die Zerstörung der Kathedrale von Toque“, erklärte Demris Gon. „Dreimal ist meine Gemahlin mit meiner kranken Tochter dorthin gepilgert in der Hoffnung auf Heilung. Erniedrigt hat sich meine Königin, indem sie ein aschefarbenes Bettlergewand trug und sich unter die Massen mischte, die dort um Wunder flehten. Die hat es dort angeblich auch immer wieder gegeben. Warum ist ausgerechnet uns so ein Wunder versagt geblieben? Ich verstehe es nicht. Als hätte sich der Verborgene Gott von uns abgewandt!“
„Kaiser Corach hat sich nach Arabur in Laramont zurückgezogen“, mischte sich nun der Jüngere Prinz ein.
„Es soll dort ein Bündnis aller Mächte geschmiedet werden“, erklärte Thondaril. „Der neu eingesetzte Herrscher des Basilisken-Reichs ist auf unserer Seite, und auch die Könige von Melagosien, Westreich und Mitulien haben ihre Gesandten geschickt.“
„Man hört aber auch, dass sie alle zögern, sich diesem Bündnis anzuschließen“, fuhr der Jüngere Prinz fort. „Könnt Ihr mir den Grund dafür nennen, wenn doch die Gefahr so groß ist, wie Ihr sagt?“
„Es ist die Furcht“, antwortete Thondaril. „Und vielleicht die vage Hoffnung auf ein gnädiges Schicksal, wenn man sich dem Feind unterwirft. Aber diese Hoffnung ist trügerisch. Wenn sich Morygors Reich erst von Hemisphäre zu Hemisphäre erstreckt und der Schattenbringer das wärmende Licht der Sonne vollends raubt, wird die Welt zu einem Ort, an dem unsereins nicht mehr existieren kann. Nur wenn wir gemeinsam handeln, besteht noch die Aussicht, das Unheil abzuwenden. Wir brauchen die Hilfe Gryphlands so dringend wie auch jene der Caladran. Alte Feindschaften werden wir schlichtweg vergessen müssen, oder wir werden alle untergehen und zu untoten Sklaven in einem Reich kalter Totenschatten werden.“
Der Ältere Prinz wollte das Wort ergreifen, doch König Demris Gon gebot ihm mit erhobener Hand zu schweigen, was dieser zwar hinnahm, aber seine Verärgerung darüber und die Eifersucht auf seinen Bruder, der vor ihm hatte sprechen dürfen, konnte er nicht verbergen. Seinem Bruder war die Gelegenheit gegeben worden, sich zu äußern, ihm nicht. Das ärgerte ihn zutiefst. Offenbar versuchte jeder der beiden Prinzen ständig unter Beweis zu stellen, besser für die königliche Nachfolge geeignet zu sein als der andere.
„Ich werde meinen jüngeren Sohn als Gesandten nach Arabur schicken und dann erwägen, dem Bündnis beizutreten“, entschied der König. „Dass ich mir als Gryphländer ein Bündnis mit den Caladran kaum vorzustellen vermag, ist eine andere Sache. Aber vielleicht habt Ihr recht, und es ist an der Zeit, alte Feindschaften zu begraben.“
„Heißt das, Ihr gestattet uns auch die Reise nach Felsenburg?“, hakte Thondaril sofort nach.
„Ihr seid ein berühmter Mann, und Aarad hat mir geschildert, wie außerordentlich Eure Bedeutung im Moment für den Orden ist, also sei Euch Eure Forschheit verziehen“, gab Demris Gon zurück. „Ich werde darüber nachdenken und zu gegebener Zeit entscheiden.“
„Aber ...“
„So lautet mein Wort, und das ist in diesem Land Gesetz“, erklärte Demris Gon, dann glitt sein Blick ins Nichts, und seine Gedanken schienen in abgelegenen Sphären andauernder Verzweiflung und vorweggenommener Trauer abzudriften.
„Dem Herzen dieses Mannes ist es gleichgültig geworden, ob alles zugrunde geht“, erreichte Gorian ein Gedanke von Sheera. „Wer weiß, vielleicht wünscht er es sich sogar insgeheim, weil er glaubt, dass dann seine eigene Qual ein Ende hätte.“
Gorian hatte den gleichen Eindruck, aber es von einer angehenden Heilerin bestätigt zu bekommen, denen man die Fähigkeit nachsagte, tiefer als die Angehörigen anderer Ordenshäuser in die Seelen von Menschen blicken zu können, war ernüchternd.
Und wieder spürte Gorian für einen kurzen Moment die Anwesenheit von sehr dunkler Magie. Da war ein Gedanke, der so bösartig und gleichzeitig so fremd war, dass man ihn unmöglich in menschliche Sprache übertragen konnte. Er hatte etwas von einem höhnischen, vor Zynismus triefenden Gelächter und der dunklen Freude eines Folterers an seinem Handwerk.
Doch schon einen Lidschlag später war nichts mehr davon zu spüren, so als hätte sich derjenige oder dieses Etwas, von dem der Gedanke stammte, abgeschirmt.
Ein Ruck ging durch den Körper des Königs, als hätte auch er diese dunkle Wesenheit bemerkt. Suchend blickte er im Raum umher. „Manchmal glaube ich schon, die Schatten des Todes zu sehen, wie sie diesen Palast durchstreifen, wie sie sich an die Öllampen hängen, mich verlachen und sich an meiner Furcht weiden ...“ Auf einmal fixierte sein Blick Gorian, auf eine Weise, die diesem sehr unangenehm war. „Gorian ... Der Ordensgesandte Aarad hat mir viel über dich erzählt. Darüber, dass du ein besonderes