Kapitel 2
Der Totenalb
Gorian saß in sich versunken neben dem Steingreifen und führte seine geistigen Übungen durch. Dazu hätte ihm in der Gesandtschaftshöhle auch eine Zelle zur Verfügung gestanden, denn schließlich war man dort auf Gäste, die dem Orden angehörten, bestens eingestellt. Aber er sah es mittlerweile als zusätzliche Herausforderung an, denselben Grad geistiger Versenkung auch außerhalb der Abgeschiedenheit einer Ordenszelle zu erreichen.
Es herrschte klares Wetter, und der strahlend blaue Himmel erinnerte ihn an jenen Moment, als er im Boot seines Vaters erwachte und empor sah. Es war jener Augenblick, in dem seine Erinnerungen einsetzten und zu dem seine Gedanken immer dann zurückkehrten, wenn er in besonderer Weise versuchte, sich innerlich für kommende Aufgaben zu wappnen und zu stärken.
Diesmal allerdings hatte er Schwierigkeiten, sich zu sammeln. Und das lag nicht daran, dass ihn der Blick auf die wimmelnde Hauptstadt Gryphlands abgelenkt hätte. Unzählige Greifen umschwebten mit mehr oder weniger sanftem Flügelschlag den Gryphenklau-Felsen, in dessen Höhlen nahezu die gesamte Stadt untergebracht war. Die meisten dieser majestätischen Wesen trugen von gut dressierten Seilschlangen gehaltene Gondeln unter ihren löwenartigen Leibern, während die krächzenden, manchmal schrillen und mal sehr tiefen Töne, die aus den Schnäbeln ihrer Vogelköpfe drangen, die Luft mit einer lauten Geräuschkulisse erfüllten. Diese mischte sich mit dem Rauschen des nahen Meeres und den Rufen der Greifenreiter, die sich untereinander ansonsten durch Zeichen verständigten, um vor allem Kollisionen der manchmal schiffsgroßen Gondeln mit wertvollen Ladungen zu verhindern.
Unterhalb der in den Fels geschlagenen Hauptstadt lag der Hafen, Port Gryphenklau geheißen. Dort legten Schiffe aus aller Herren Länder an, wobei westreichische und heiligreichische Galeeren und vor allem Schiffe aus Margorea die Mehrheit stellten. Die Einheimischen benutzten kaum Schiffe, sondern zogen es verständlicherweise vor, in ihren Greifengondeln zu reisen.
Gryphland war größtenteils so zerklüftet und unwegsam, dass auch der Einsatz von flugunfähigen Reittieren kaum sinnvoll erschien. Allerdings war Meister Aarad, der in seinen Jahren als Ordensgesandter zu einem Kenner Gryphlands geworden war und wie kaum ein anderer über die Besonderheiten dieses Landes Bescheid wusste, in diesem Punkt anderer Ansicht. „Es ist genau umgekehrt, als es den Anschein hat“, erinnerte sich Gorian der Worte, die Aarad zu diesem Thema geäußert hatte. „Weil es den Gryphländern gelang, die Greifen zu zähmen, haben sie sich niemals die Mühe gemacht, Straßen zu bauen oder Wege anzulegen, wie man es andernorts getan hat.“
Tatsächlich gab es in Gryphland kaum Straßen. Nicht einmal von Port Gryphenklau zur Hauptstadt führte ein Weg. Vor ein oder zwei Menschenaltern hatte der damalige König Baumeister aus Mitulien damit beauftragt, eine Straße bis hinauf zum Gipfel des Grypghenklau-Felsens zu bauen, wo sich der Eingang zu den Palasthöhlen befand. Die Rampe, die damals fertiggestellt worden war, existierte noch immer, und ebenso ein erstes Stück dieser Straße. Aber die Bauarbeiten hatten abrupt eingestellt werden müssen, weil es zu einem Aufstand der äußerst einflussreichen Gilde der Frachtgreifenreiter gekommen war, die um ihre Pfründe gefürchtet hatten. Und so war es dabei geblieben, dass es keinerlei direkte Verbindung zwischen Hafen und Hauptstadt gab und alle Waren, die mit Schiffen angeliefert wurden, zunächst in Greifengondeln umgeladen werden mussten, bevor sie in den Palast gelangen konnten. Damit war etwas für gryphländische Verhältnisse so Exotisches wie Pferdefuhrwerke oder gar von Hand gezogene Karren auf Zeitalter hinaus ins Reich der Albträume von silbergierigen Frachtgreifenreitern verbannt. Kein gryphländischer König würde auf absehbare Zeit einen weiteren Versuch in diese Richtung wagen. Die Rampe und das begonnene Stück der Straße, die nach guter mitulischer Baukunst für die Ewigkeit geschaffen schienen, waren ein Mahnmal, das den jeweiligen König immer daran erinnern sollte, dass sich Gryphland nicht regieren ließ, wenn man die Gilden der Greifenreiter gegen sich hatte.
Für einen Moment glaubte Gorian, einen Schatten im glitzernden Sonnenlicht zu sehen, weit draußen auf dem Meer, und augenblicklich war er aus seiner gedanklichen Sammlung herausgerissen. Die Hand glitt zum Schwert Sternenklinge, das er neben sich auf den Granitboden des Felsplateaus abgelegt hatte. Die Waffe hatte er ständig bei sich, denn er war immer auf einen Angriff vorbereitet. Morygor hatte schließlich mehrfach versucht, ihn zu töten, und nur der Frostherrscher allein wusste, wann der nächste metamagisch berechnete Zeitpunkt gekommen war, an dem sich die Schicksalslinien in Morygors Sinn günstig beeinflussen ließen.
Spüre, was da ist. Erkenne, was nur eine Reflexion deiner eigenen Gedanken ist, erinnerte sich Gorian eines der Ordens-Axiome.
Seine Augen wurden für einen Moment schwarz, als er genug Magie in sich sammelte, um erspüren zu können, was der Schatten gewesen sein mochte. Die Empfindung, die er dabei hatte, war nur sehr flüchtig und so schnell wieder vorbei, dass es sehr schwer war, sie richtig zu beurteilen. So sehr er mit den Mitteln seines inzwischen schon sehr gut ausgebildeten Geistes um sich tastete, er fand nichts mehr.
„Was beunruhigt dich?“, erreichte ihm stattdessen ein Gedanke von Sheera.
Er spürte erst jetzt ihre körperliche Anwesenheit, was nur daran liegen konnte, dass er sich sehr stark auf den Schatten konzentriert hatte. Er drehte sich herum.
Sheera setzte sich zu ihm. „Manchmal hat es keinen Sinn, sich sammeln zu wollen“, sagte sie.
„Für einen Moment habe ich gedacht, da wäre ein Magie-Schatten, dort draußen auf dem Meer. Aber ich scheine mich getäuscht zu haben.“
„Mir ist das auch schon passiert“, erklärte Sheera. „Der Schattenbringer spiegelt sich manchmal im Wasser. Und diese Spiegelungen haben sogar noch etwas magische Kraft. Zumindest genug, um sie spüren zu können wie einen bösen Gedanken.“
Er sah sie an, und der Blick ihrer meergrünen Augen offenbarte ihm, dass sie sehr genau erkannt hatte, was wirklich mit ihm los war und was ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.
„Mir gegenüber kannst du offen sprechen“, sagte sie. Sie brauchte nicht einmal genauer zu präzisieren, was genau sie damit meinte.
„Ich bin unzufrieden“, erklärte er. „Seit wir das Frostreich verlassen haben, ist kaum noch etwas, wie es war. Ich habe all meine Kraft in dem Kampf am Speerstein aufgebracht, weil ich geglaubt hatte, es wäre Morygor,