Als fünfter und letzter Einflussfaktor sind soziodemografische Veränderungen zu nennen. Veränderungen von Geburtenraten, Verschiebungen in den Zahlen von mono- oder interkonfessionellen Ehen, Männer- oder Frauenüberhänge in Gesellschaften können wichtige Einflüsse auf die religiös-säkulare Konkurrenz aufweisen. So können sich z. B. Mehrheitsverhältnisse zwischen konkurrierenden Parteien aufgrund unterschiedlicher Fertilität innerhalb weniger Generationen umkehren. Auch Veränderungen von Bildungs- und Berufsstatus sowie Einkommensverteilungen sind hier zu nennen.
Effekte des Konkurrenzgeschehens
Unsere Theorie erklärt nun eine ganze Reihe von Phänomenen als Ergebnis der genannten Konkurrenzkämpfe.113 Natürlich ist es möglich, dass eine Situation der Konkurrenz einfach weiter fortbesteht, ohne dass eine der beiden Seiten den Kampf für sich entscheiden kann. In vielen anderen Fällen aber kommt es zu interessanten Veränderungen im Gesamtsystem.
Führt die Entscheidung zum Sieg der einen und zur Niederlage der anderen, entstehen Monopole oder Quasi-Monopole. Als Beispiele sind hier die Durchsetzung des Christentums im 4. Jahrhundert unter Theodosius oder aber die Durchsetzung des Islam mittels der iranischen Revolution von 1978/79 zu nennen. In manchen |43| Fällen kommt es zum Verschwinden der unterlegenen Partei, häufiger jedoch sind Siege und Niederlagen nicht absolut, sondern graduell. Sie schlagen sich in Verschiebungen der Macht, des Einflusses und der Anzahl von Anhängern nieder.114
Eine andere Lösung des Konkurrenzkonfliktes ist die Verringerung oder Vermeidung mittels geschlossener Kompromisse, Absprachen oder Kartelle.115 So einigten sich die miteinander konkurrierenden christlichen Missionsgesellschaften 1910 in Edinburgh darauf, sich nicht gegenseitig die Mitglieder abzuwerben – und begründeten damit die Ökumenische Bewegung.116 So führten in einigen westeuropäischen Staaten (Deutschland, Niederlande, Schweiz) die Konfessionsspaltungen nach einer Phase des Konflikts zu einer geografischen und sozialen Aufteilung der Gesellschaft: Man lebte getrennt nebeneinander.
Aber die Theorie erklärt nicht nur Erfolg oder Misserfolg von Anbietern, sondern auch weitere gesellschaftliche Phänomene wie Differenzierung, Individualisierung oder Säkularisierung.
So können Konkurrenzbeziehungen – in Verbindung mit weiteren Faktoren – sowohl zu Differenzierungs- als auch zu Entdifferenzierungsphänomenen führen.117 Differenzierung meint in unserem Zusammenhang die Tatsache, dass das soziale Leben in funktional unterschiedliche, spezialisierte Teile (Positionen, Rollen, Institutionen) zergliedert wird. Diese erfüllen nun je spezifische Funktionen, die vorher von einer einzigen Institution erfüllt wurden.118 Als Beispiel sei hier der Kampf |44| der Ärzte im 19. Jahrhundert um die Autonomie ihrer Profession angeführt, indem sie sich vehement von «Kurpfuschern», «Quacksalbern», aber auch religiösen Heilern absetzten.119 Im Effekt führte diese Konkurrenz zu einer Steigerung der Differenzierung zwischen Religion und Medizin in der Gesellschaft. Die Auseinandersetzung um die Hoheit über den Religionsunterricht mit dem Ergebnis eines von den Kirchen unabhängigen Religionsunterrichts verdeutlicht eine zunehmende Differenzierung zwischen Kirchen und Schulen.120 Interessanterweise kann Konkurrenz aber auch umgekehrt zu Entdifferenzierungen Anlass geben. So hat sich gezeigt, dass die besonders intensiv Religiösen unter den Reformierten und den Katholiken sowie die Mitglieder der evangelischen Freikirchen manchmal zusammenrücken, um gegen den gemeinsamen «Feind» der säkularen Konsumgesellschaft zu kämpfen. Hierdurch werden vormals wichtige Differenzen zwischen diesen Gemeinschaften verwischt. Ein anderes Beispiel sind charismatische Kirchen, die in ihren «Celebrations» aufgrund starker Konkurrenz durch den Freizeitbereich so stark die Kultur der Popmusik imitieren, dass es schliesslich zu einem Verschwimmen der Grenzen zwischen religiösem und säkularem «Produkt» kommt. Auch dies kann man als Prozess der Entdifferenzierung lesen.
Konkurrenzbeziehungen können ferner zu Individualisierungs- bzw. Kollektivierungsprozessen führen.121 Ausweitung von Konkurrenz führt zu einer Vervielfältigung des Angebots und zu der steigenden Möglichkeit, sich durch Konsum vom jeweils anderen zu unterscheiden. So hat die neue – und sich z. T. stark konkurrenzierende – religiöse Vielfalt, die wir seit den 1960er Jahren in vielen westlichen Ländern beobachten, eine nie dagewesene religiöse Wahl- und Individualisierungsmöglichkeit mit sich gebracht.122 So führte die Entstehung eines wettbewerbsorientierten Marktes für islamische Kleidung dazu, dass das Kopftuch von einer stigmatisierten Praxis zu einem hoch individualisierten modischen Objekt wurde.123 Umgekehrt kann Konkurrenz aber auch kollektivierend wirken. Viele Forschungen haben gezeigt, wie verschiedenste religiöse Gruppen – von christlichen Fundamentalisten bis zu Scientology – auf Konkurrenz reagieren, indem sie durch spezielle Mitgliedschaftszeichen und hohe «Eintrittspreise» gerade den kollektiven Charakter der Gruppe stärken.124 |45|
Konkurrenzkämpfe können sowohl zu Säkularisierung als auch zur Resakralisierung ganzer Gesellschaften führen.125 So führte der Kampf zwischen den Laizisten Frankreichs mit der katholischen Kirche während und nach der Französischen Revolution zu einer nie gekannten Säkularisierung Frankreichs – letztlich deshalb, weil die Partei der Laizisten siegreich aus dem Kampf hervorging. Die Konkurrenz zwischen der Freizeitgesellschaft und dem Katholizismus in den Niederlanden in den 1960er Jahren führte zu einer starken Säkularisierung, weil die religiösen Anbieter den Freizeitangeboten nichts Vergleichbares entgegensetzen konnten und die Individuen die attraktiveren säkularen Angebote wählten. Umgekehrt hatte die Konkurrenz zwischen dem kommunistischen Regime und der Zivilgesellschaft in den 1980er Jahren in Polen eine Resakralisierung der Gesellschaft zu Folge, da die Opposition in der Religion die beste Möglichkeit sah, den Widerstand zu formieren.126 Übrigens kann auch ein weit verbreitetes religiöses Desinteresse mit Hilfe des Konkurrenzgedankens erklärt werden: dann nämlich, wenn die betreffenden religiös-säkularen Konkurrenzkämpfe zu Gunsten der säkularen Seite ausgegangen sind und historisch schon weiter zurückliegen (wie z. B. gegenwärtig in den neuen Bundesländern Deutschlands). In solchen Fällen kommen viele Menschen erst gar nicht mit Religion in Kontakt und zeigen auch kein besonderes Interesse für religiöse Fragen.127
Ein besonders interessanter Effekt des Konkurrenzgeschehens besteht schliesslich in Wechseln des Konkurrenzregimes. Wie wir oben gesehen haben, ringen die kollektiven Akteure ständig um Macht, Einfluss und Deutungshoheit in der Gesellschaft, unter anderem dadurch, dass sie versuchen, das geltende Konkurrenzregime zu verändern. Da ständig verschiedene Kräfte am Werk sind, kann es trotz dieser Konkurrenz oft längere Zeiten von Stabilität geben. Manchmal jedoch wird das geltende Konkurrenzregime (z. T. aufgrund der Ergebnisse der Konkurrenz, z. T. aufgrund von externen Einflüssen) so stark verändert, dass ein qualitativ neues «soziales Spiel» entsteht. In einem solchen Fall kann man von einem Wechsel des Konkurrenzregimes sprechen. In diesen aussergewöhnlichen Situationen werden gewissermassen «die Karten neu gemischt»: Ressourcen, die vorher viel Wert hatten, sind plötzlich wertlos und umgekehrt; vormals führende soziale Gruppen sehen sich plötzlich deklassiert; wer Einfluss sucht, muss plötzlich in ganz anderer Art vorgehen usw. Im folgenden Abschnitt werden wir einen solchen Wechsel des Konkurrenzregimes ausführlich behandeln. |46|
Die hier nur skizzierten Ausführungen zeigen, so hoffen wir, dass eine auf Konkurrenzüberlegungen aufbauende Theorie gegenüber den bisherigen Theorien (Modernisierungs-, Individualisierungs-, Markttheorie) wichtige Vorteile aufweist. Insbesondere führt sie eine Akteurperspektive ein und benennt klare kausale Mechanismen. Um aber brauchbare Erklärungen und Hypothesen zu liefern, muss die Theorie auch sozio-historisch konkretisiert werden. Das ist das Ziel der nun folgenden Abschnitt.
2.3 Sozio-historische Konkretisierung128
Die zentrale These unseres Buches lautet, dass die kulturelle Revolution der 1960er Jahre zu einem neuen Regime religiös-säkularer Konkurrenz geführt hat. Sowohl vorher als auch nachher finden wir religiös-säkulare Konkurrenz um Herrschaft und individuelle Nachfrage. Aber die Form dieser Konkurrenz hat sich in den 1960er Jahren signifikant verändert. Vor der 1960er Revolution wurde Religion und Religiosität als etwas Öffentliches angesehen, und die Gesellschaft als Ganzes verstand sich als bikonfessionell, d. h. als – trotz aller konfessionellen