Die Markttheorie weist im Vergleich zu Modernisierungs- und Individualisierungstheorie völlig andere Stärken und Schwächen auf. Positiv ist zu werten, dass diese Theorie die Akteurperspektive beinhaltet. Der Ansatz spricht nicht nur abstrakt von Prozessen, sondern von Individuen und kollektiven Akteuren (Kirchen, Organisationen usw.), die nicht nur passiv den Geschehnissen ausgeliefert sind, sondern diese aktiv gestalten können. Auch wird hier im Unterschied zu den zwei vorherigen Theorien ein klarer kausaler Mechanismus vorgestellt: Es ist einleuchtend, wie – der Theorie gemäss – unterschiedliche gesellschaftliche Makrobedingungen die Situation von Individuen und kollektiven Akteuren verändern, wie diese reagieren und wie sich hieraus die zu erklärenden neuen Situationen ergeben.
Der Schwachpunkt der Theorie liegt nicht in zu geringer Konkretheit, sondern gerade umgekehrt darin, dass ein sehr spezieller Mechanismus in unzulässiger Weise auf alle möglichen Zeiten und Gesellschaften verallgemeinert wird. So ist offensichtlich, dass sich Kirchen in sehr vielen Gesellschaften nicht als Firmen verstehen und Gläubige sich nicht wie Kunden verhalten.70 Empirisch zeigt sich, dass der von der Markttheorie postulierte Mechanismus oft nicht spielt. Vermehrter Pluralismus, ein freierer Markt und weniger Regulierung führen oftmals gerade nicht zu mehr Religiosität.71 Zudem kann auch der religiöse Bedarf nicht einfach als konstant angesehen werden, sondern unterliegt Veränderungen und Beeinflussungen durch die jeweiligen Regionen und Umweltbedingungen.
Auch wenn die Ideen der Markttheoretiker sich als Ganzes nicht bewährt haben, sind u. E. doch verschiedene Elemente ihrer Theorie durchaus brauchbar. |30| Vor allem die Idee der Konkurrenz um die Gunst, Zeit und Energie der Menschen werden wir für unsere eigene Theorie aufgreifen.
2.2 Die allgemeine Theorie religiös-säkularer Konkurrenz
Im Folgenden schlagen wir eine neue Theorie vor, die versucht, die genannten Schwierigkeiten der bisherigen Ansätze zu vermeiden. Die von uns vertretene Theorie sieht den religiösen Wandel als Resultat religiös-säkularer und intra-religiöser Konkurrenzverhältnisse auf verschiedenen Ebenen. Diverse interne und externe Faktoren (z. B. Kriege oder Erfindungen) wirken darauf ein, wer sich in diesen Konkurrenzverhältnissen durchsetzt. Ferner postulieren wir einen Wechsel des religiösen Konkurrenzregimes in den 1960er Jahren. Hiermit ist gemeint, dass die religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenz betreffenden gesellschaftlichen Regeln in dieser Zeit einen tiefgreifenden Richtungswechsel durchgemacht haben. Wir skizzieren zunächst die allgemeine Theorie und wenden sie dann in einer «sozio-historischen Konkretisierung» auf den uns interessierenden Fall der Schweiz an.72
Eine terminologische Bemerkung: Unsere Theorie bezieht sich auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenz; wichtig ist, dass der Konkurrenzbereich sowohl religiöse als auch säkulare Anbieter umfassen kann. Im Folgenden verwenden wir aus Gründen der besseren Lesbarkeit den Begriff «religiös-säkulare Konkurrenz» oft inklusiv, d. h., intra-religiöse Konkurrenz ist mitgemeint. Wo es ausschliesslich nur um das eine oder andere geht, machen wir dies speziell kenntlich.
Vorbemerkungen
Vorläufer der Theorie
Schon andere Forschende haben auf religiös-säkulare und intra-religiöse Konkurrenzverhältnisse hingewiesen. Wir finden diesbezügliche Befunde und Bemerkungen in so verschiedenen Disziplinen wie der Soziologie, den Wirtschaftswissenschaften, dem Marketing oder der Geschichte. Diese Einsichten sind allerdings bisher noch nie gesamthaft dargestellt und in einer einheitlichen Theorie zusammengefasst worden. Betrachten wir kurz die wichtigsten dieser Elemente.73 |31|
Eine Reihe von Autoren hat auf religiös-säkulare oder intra-religiöse Konkurrenz um Macht und Ansehen auf einer gesellschaftlichen Ebene oder innerhalb von Organisationen aufmerksam gemacht. So haben schon Max Weber und auch Pierre Bourdieu Konkurrenzverhältnisse zwischen Priestern, Propheten und Magiern in einem «religiösen Feld» analysiert.74 Andrew Abbott hat mit «Systems of Professions» eine hervorragende Arbeit vorgelegt, die zeigt, wie Kleriker und andere Professionen sich in einem ständigen Konkurrenzkampf um das Monopol über bestimmte Produktionsmöglichkeiten und Jurisdiktionen befinden.75 Christian Smith erklärt die Säkularisierung der Institutionen in den USA von 1870 bis 1930 als Ergebnis eines Konkurrenzkampfes zwischen protestantischem Establishment und neuen, säkularen Eliten. In ähnlicher Weise schlägt Mark Chaves vor, Säkularisierung auf drei Ebenen durch den Konkurrenzkampf um religiöse oder säkulare Autorität zu erklären.76 Schliesslich analysiert eine Forschergruppe um Monika Wohlrab-Sahr seit einigen Jahren Konkurrenzverhältnisse und Konflikte zwischen religiösen und säkularen Weltsichten (und den dahinter stehenden Eliten).77
Andere Autoren haben Konkurrenz um individuelle Nachfrage in den Vordergrund ihrer Analysen gestellt.78 Die Ökonomen Corry Azzi und Ronald Ehrenberg sowie im Anschluss daran Laurence Iannaccone haben ein Modell entwickelt, in dem Individuen zwischen religiöser und säkularer Zeitverwendung entscheiden können, so dass Kirchen, Arbeitgeber und Freizeitanbieter um die Zeit der Individuen in Konkurrenz stehen. In einer ebenfalls ökonomischen Studie haben Jonathan Gruber und Daniel M. Hungerman gezeigt, dass die Öffnung von Supermärkten an Sonntagen dazu führt, dass die Menschen seltener in die Kirche gehen.79 Die Soziologen Tony Gill und Erik Lundsgaarde haben in einer wichtigen Untersuchung darauf hingewiesen, dass der moderne Wohlfahrtsstaat in westlichen Ländern die religiösen Anbieter konkurrenziert, indem er ähnliche Güter anbietet.80 Jochen Hirschle, ebenfalls Soziologe, hat am Beispiel der Säkularisierung Irlands und in anderen Arbeiten gezeigt, wie die moderne Konsumkultur zu einem wichtigen Konkurrenten für Religion wurde.81 Und Historiker wie |32| Urs Altermatt, Hugh McLeod oder Mark Edward Ruff haben nachgezeichnet, wie der Jugendarbeit der Kirchen in der westlichen Welt nach 1945 durch Rock ’n’ Roll, James Dean, «Bravo», Kinos und Tanzhäuser ein unbezwingbarer Konkurrent erwuchs.82 Um all diese Analysen und Erkenntnisse in ein einheitliches Konzept zu fassen, benötigen wir einen theoretischen Rahmen. Diesen liefert uns die sogenannte analytische Soziologie.
Analytische Soziologie
Die analytische Soziologie ist ein im Wesentlichen auf dem Forschungsprogramm Max Webers basierender soziologischer Ansatz, der davon ausgeht, dass Soziologie rätselhafte soziale Phänomene mit Hilfe von deutendem Verstehen kausal erklären sollte. Dies bedeutet, dass man zum einen die subjektive Sicht der Akteure in hermeneutischer Weise zu rekonstruieren hat und zum anderen die genauen kausalen Mechanismen herausarbeiten muss, die zu einem spezifischen zu erklärenden Phänomen geführt haben.83
Die hierdurch entstehenden Erklärungen bauen auf dem Prinzip des methodologischen Individualismus auf, womit gemeint ist, dass die soziale Welt aus verschiedenen «Ebenen» besteht, die durch kausale Mechanismen miteinander verknüpft sind: eine Makro-Ebene kultureller und gesellschaftlicher Randbedingungen, eine Meso-Ebene (Gruppen, Organisationen, Milieus) und eine Mikro-Ebene individuellen Wahrnehmens und Handelns. Soziologische Erklärungen wollen immer Phänomene auf der Meso- oder Makro-Ebene erklären – dies ist jedoch nur möglich, wenn man sie als Ergebnisse des Verhaltens der Individuen auf der Mikro-Ebene auffasst.84
Aus der Sicht der analytischen Soziologie handeln Individuen meist (begrenzt) rational. Sie haben normalerweise «gute Gründe» für ihr Verhalten, wobei sie aufgrund ihrer Ressourcen, Präferenzen, Glaubensansichten wie auch aufgrund der wahrgenommenen geltenden Normen und des verfügbaren Angebots auswählen. Wenn ein Handeln von aussen als unverständlich