Grafik 2.2: Schematische Darstellung des Regimewechsels religiös-säkularer Konkurrenz
Die Revolution der 1960er Jahre hatte verschiedene äusserst wichtige Auswirkungen auf Religion. Wir können sie an drei zentralen Punkten festmachen. Erstens bewirkte sie, dass die Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Religion und die Kirchen als eine der verschiedenen Autoritäten angriffen und herausforderten. Die Kirchen hatten zwar in den letzten Jahrzehnten ständig Funktionen verloren, |55| aber sie waren bis in die 50er Jahre immer noch in der Lage gewesen, die Schweizer Gesellschaft als Ganzes zu legitimieren. Durch die kulturelle Revolution der 60er Jahre wurde ihnen diese Funktion abgesprochen, und zwar von aussen wie von innen.157 Zweitens führten die neuen Lebensumstände der 50er und 60er Jahre mit ihren extremen Einkommenssteigerungen und den neuen Freizeitoptionen dazu, dass die kirchliche Jugendarbeit – die bisher einen wichtigen Stellenwert innehatte – von den säkularen Konkurrenzangeboten ausgehebelt wurde. Schon in den 1940er und 1950er Jahren hatte sich abgezeichnet, dass die kirchlich organisierten Freizeitaktivitäten einen schweren Stand haben würden – jetzt wurden sie oft einfach weggefegt. Drittens kam es interessanterweise auch innerhalb der Grosskirchen zu eigentlichen Revolutionen. Auf der Seite der Katholiken war das II. Vatikanum ein einschneidendes Ereignis, das zu riesigen Veränderungserwartungen führte; auf der Seite der Reformierten hatten extrem institutionskritische Gedanken wie auch die Idee vom «Tod Gottes» Konjunktur. 1971 schrieb der Kirchenhistoriker Kurt Guggisberg über das vorangegangene Jahrzehnt: |56|
Als im Jahre 1962 das umfangreiche «Handbuch der reformierten Schweiz» eine Heerschau des damaligen Protestantismus vorführte, schienen die hergebrachten kirchlichen Strukturen noch unangefochten zu sein. Alles ist seither von den revolutionär eingestellten Theologen und Laien als überholt und verbesserungsbedürftig verworfen worden.158
Dabei waren die 1960er Jahre kein besonders säkulares Jahrzehnt. Im Gegenteil: Es handelte sich um Jahre grossen – wenn auch kritischen – religiösen Interesses. Die Kirchen wurden zwar kritisiert, aber man sprach über sie. Viele Menschen hielten das Jahrzehnt für eine Zeit neuen religiösen Aufbruchs. Wenige sahen den bevorstehenden Sturzflug der Kirchen voraus.
Religiös-säkulare Konkurrenz in der Ich-Gesellschaft
Durch die Revolution der 1960er Jahre wurde das alte Regime religiös-säkularer Konkurrenz der Industriegesellschaft durch dasjenige der Ich-Gesellschaft ersetzt. In beiden Konkurrenzregimes finden wir religiös-säkulare Konkurrenz auf allen drei Ebenen: um Macht in der Gesellschaft, um Macht innerhalb von Gruppen/Organisationen/Milieus und um individuelle Nachfrage. Allerdings hat sich der zentrale Punkt, um den es sich in der Konkurrenz dreht, völlig verändert. Innerhalb des neuen Konkurrenzregimes besitzen Individuen vergleichsweise viele Ressourcen und viel Sicherheit. Auf dieser Basis entscheiden sie selbst über ihre eigene Ausbildung, Berufswahl, Partnerwahl, sexuelle Ausrichtung, ihren Lebensstil – und eben auch über Religion und Religiosität. Religiöse Zugehörigkeit wird damit als prinzipiell wählbar angesehen, und der Kirchenaustritt wird enttabuisiert. Die Individuen empfinden sich zunehmend weniger als von Geburt an Mitglied einer Gemeinschaft, sondern sehen sich zunehmend als «Kunden» gegenüber religiösen «Anbietern».159 Das heisst nicht, dass es in diesem Konkurrenzregime nicht auch religiös-säkulare Konkurrenzen um Macht geben könnte. Aber auch in solchen Fällen gehen die Menschen wie selbstverständlich von einer grundsätzlich individualistischen Weltsicht aus. |57|
Konkurrenzbeziehungen
Die sicherlich wichtigste Konkurrenzbeziehung im Konkurrenzregime der Ich-Gesellschaft ist die religiös-säkulare Konkurrenz um Nachfrage. Auf buchstäblich allen von ihnen ehemals monopolistisch bearbeiteten Gebieten zeigen sich den Kirchen und religiösen Gemeinschaften gegenüber nun säkulare Anbieter, die für ähnliche Güter werben. Ein erstes Gebiet dieser Konkurrenzbeziehung ist die Freizeit. Da die Normen, die die religiöse Praxis sicherten, ihre Bindekraft verloren haben, ist die religiöse Praxis zur «Freizeitentscheidung» geworden. Dies wirkt sich besonders stark auf die Gestaltung des Sonntags aus. Für viele Menschen ist der «Tag des Herrn» zum säkularen Weekend geworden. Freizeitkonkurrenz zeigt sich ferner sehr deutlich in Bezug auf Jugendliche. Die Kirchen hatten vom Ende des 19. Jahrhunderts an versucht, Freizeitangebote für Jugendliche aufzubauen, um so eine kontinuierliche Transmission der christlichen Inhalte zu garantieren. Diese Angebote sahen sich in den 1950er und dann extrem seit den 1960er Jahren einer starken Konkurrenz zu säkularen Freizeitangeboten aller Art ausgesetzt. Die Konkurrenz um Nachfrage zeigt sich zweitens auch stark in der Kindererziehung, in der Eltern sich die Frage stellen müssen, wie viel Raum der religiösen Erziehung gegenüber säkularer Erziehung und anderen Zeitverwendungsmöglichkeiten eingeräumt werden soll. Ein dritter Aspekt dieser Konkurrenz betrifft die «Nachfrage nach Berufen». Durch den Wirtschaftsaufschwung und die verbesserten Bildungschancen für breite Kreise der Bevölkerung ist der Beruf des Priesters oder Pastors vergleichsweise weniger attraktiv geworden. Dieser Beruf war früher eine der wenigen Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs für Kinder aus ärmeren und ländlicheren Gegenden. Mit dem Verschwinden dieses Vorteils ist die Attraktivität des kirchlichen Berufs gesunken.160 Ein vierter und letzter Bereich der Konkurrenz betrifft die Kasualien, die lange noch als die letzte Bastion der Kirchen galten. Sie werden in dem Mass konkurrenziert, wie säkulare Ritualberater auf den Plan treten.161
Religiös-säkulare Konkurrenz um Nachfrage führt zu wichtigen Effekten sowohl für Nachfragende als auch für Anbieter. Nachfragende wählen meist die Angebote, die ihnen am attraktivsten erscheinen. Da die säkularen Angebote sehr stark ausgebaut worden sind und zudem dank gestiegener Kaufkraft auch leichter erreichbar sind, kommt es bei vielen Individuen zu einem «säkularen Driften», d. h., sie gleiten langsam in säkulareres Fahrwasser. Oft geschieht dies weniger als bewusste Entscheidung gegen religiöse Angebote, als vielmehr als ein Nebenprodukt der Entscheidung |58| für säkulare Angebote. Die Tatsache, dass Individuen selbst über ihre religiös-säkulare Nachfrage entscheiden, führt ferner zu einer zunehmenden Individualisierung (die Individuen unterscheiden sich zunehmend in Bezug auf ihren individuell zusammengestellten religiös-säkularen «Warenkorb») und eine zunehmende Konsumorientierung (die Individuen betrachten die religiös-säkulare Welt zunehmend als «Angebote», die sie nach Leistung und Preis beurteilen. Für religiöse Anbieter bedeutet das neue Konkurrenzregime der Ich-Gesellschaft, dass sie grosse Anstrengungen unternehmen müssen, um «im Markt zu bleiben», d. h. um Menschen zu motivieren, Zeit, Energie und Geld für religiöse (und nicht für andere) Zwecke bereitzustellen. Kirchen versuchen daher zunehmend, verschiedene aus dem Marketing bekannte Strategien anzuwenden (z. B. Bedürfniserfassung, Qualitätssicherung, Werbung).162 Eine wichtige Strategie besteht auch darin, eine bestimmte Grösse zu erreichen, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können (daher das Phänomen der Fusionen und Megachurches).163
Ein für die Religion in der Gesellschaft äusserst wichtiger Konkurrenzkampf, der bereits im 19. Jahrhundert begann und das ganze 20. Jahrhundert mit steigender Virulenz in den 1960er, 1970er und 1980er Jahren durchzieht, bezieht sich auf die Emanzipation der Frauen.164 Während es im vorindustriellen Zeitalter normal war, dass sowohl Männer wie auch Frauen erwerbstätig sein konnten,165 führte die Industrialisierung, die fortschreitende Trennung von Wohn- und Arbeitsort und die Erfindung der bürgerlichen Familie zu einer starken arbeitsteiligen Trennung der Geschlechterrollen. In dieser Ideologie war der Mann für den Broterwerb ausser Haus zuständig, während die Frau sich zu Hause um die Kinder und den Haushalt kümmerte. Gerade die Tatsache, dass die Frau nicht zu arbeiten brauchte, zeigte den Status der Familie an. Männern und Frauen wurden hierbei unterschiedliche, «naturgegebene»