2.1 Theorien zu Religion und Moderne
Säkularisierungstheorie24
Die wichtigsten Klassiker der Soziologie – Auguste Comte, Herbert Spencer, Max Weber, Emile Durkheim und Karl Marx – waren allesamt überzeugt, dass die Folgen der Aufklärung, das Voranschreiten der Industrialisierung und die zunehmende Arbeitsteilung langfristig zu einem Niedergang des Religiösen führen müssten. Sie haben die Tradition begründet, die wir hier als «Säkularisierungstheorie» bezeichnen. Auguste Comte25 etwa dachte, die menschliche Gesellschaft entwickle sich gesamthaft von einem theologischen über ein metaphysisches zu einem vollständig wissenschaftlichen Stadium. Die Wissenschaft (und vor allem die Soziologie) würde also – so Comte – die Religion ersetzen. Max Weber26 war der Meinung, vor allem der Protestantismus habe (ungewollt) zur Entwicklung des modernen Kapitalismus geführt. Einmal entstanden, stosse die moderne kapitalistische Gesellschaft das Religiöse als eine ihr fremde «Wertsphäre» jedoch immer mehr ab.27 Durkheim28 schliesslich argumentierte, die moderne Gesellschaft zeichne sich durch eine immer stärkere Arbeitsteilung aus, was die Religion, die ursprünglich alles umfassen konnte, immer mehr schwäche.29
Verschiedene Religionssoziologen haben die Säkularisierungstheorie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgenommen und fortentwickelt.30 Sie heben jedoch je unterschiedliche zentrale Merkmale des Modernisierungsprozesses hervor. Wilson31, Luhmann32 und Casanova33 etwa halten das schon von Durkheim und Weber beobachtete Element der Ausdifferenzierung der Gesellschaft für besonders wichtig.34 Gemäss diesen Theoretikern differenziert sich die Gesellschaft, |22| wodurch verschiedene Systeme (z. B. Wirtschaft, Erziehung, Recht, Politik, Medizin usw.) entstehen, die nach je eigenen Gesetzen und «Logiken» ablaufen. Hinsichtlich der Bedeutung religiöser Bezüge in der Gesellschaft werden unterschiedliche Positionen vertreten, so halten Wilson und Luhmann daran fest, dass religiöse Bezüge durch die Ausdifferenzierung immer mehr in den Hintergrund gedrängt würden. Religion als eigenes System stehe in einer strukturellen Spannung zur Modernisierung und sei zudem nicht besonders leistungsfähig. Demgegenüber vertritt Casanova entschieden die These einer strukturellen Vereinbarkeit von Religion und Moderne. Differenzierung führe nicht notwendigerweise zu einem Niedergang religiöser Überzeugungen – auch wenn dies in Europa empirisch vielfach der Fall sei. Von dieser Ausgangsposition her entwirft Casanova das Modell der «öffentlichen Religion», deren Organisationsformen starke zivilgesellschaftliche Akteure sein können.35
Eine zweite Form der Säkularisierungstheorie wird von Pippa Norris und Ronald Inglehart vertreten. Diese Variante stellt die Tatsache in den Vordergrund, dass es im Lauf der Modernisierung zu einer deutlichen Anhebung des Lebensstandards und einer Verringerung zentraler Lebensrisiken komme.36 Im Vergleich zu anderen Regionen der Welt zeichnen sich etwa westeuropäische, stark modernisierte Länder durch grossen Reichtum, einen Wohlfahrtsstaat, hochwertige medizinische Versorgung, Versicherungen usw. aus. Da es bei Religion zentral um die Bewältigung von schwierigen Lebenssituationen gehe und da Modernisierung solche Situationen entweder zum Verschwinden bringe (z. B. Pest, Kindersterblichkeit) oder mit technischen, säkularen Mitteln bearbeitbar mache, sinke in modernisierten Ländern die Nachfrage nach Religion.
Der Religionssoziologe Steve Bruce macht in einer dritten Variante der Säkularisierungstheorie speziell auf die Tatsache aufmerksam, dass Religion und Religiosität bis in die Moderne hinein gar keine individuellen Angelegenheiten waren, sondern sozial erwartet wurden.37 Ein Abweichen vom rechten Glauben konnte schwerwiegende Folgen haben; die Inquisitionen, Hexenverbrennungen wie auch die vielen um Religion geführten Kriege zeigen dies mit grösster Deutlichkeit. Durch Modernisierung und die mit ihr einhergehenden Toleranz- und Religionsfreiheitsgesetze werden die Normen, die Religion als für die Menschen verbindlich erklären, immer mehr aufgelöst. Früher war Unglaube, heute ist Glaube Privatsache.38 |23|
Eine vierte und letzte Variante stellt die mit zunehmender Modernisierung abnehmende Plausibilität der Religion in den Vordergrund. Das moderne Bewusstsein empfindet es – so Peter Berger39 – als immer schwieriger, an «transzendente Mächte» wie etwa Götter, Engel oder Teufel zu glauben. Ein Grund liege – erneut – in der uns umgebenden modernen Gesellschaft, die unerwartete Geschehnisse routinemässig wissenschaftlich (geologisch, medizinisch, physikalisch usw.) erklärt. Ein anderer Grund kann darin gesehen werden, dass moderne Gesellschaften plural sind: Das Individuum sieht sich vielen verschiedenen Religionen und nicht-religiösen Weltanschauungen gegenüber, die alle je einen (manchmal absoluten) Wahrheitsanspruch anmelden.40 Dies führt im modernen Bewusstsein zu einer Selbstrelativierung und zur Distanzierung vom eigenen religiösen Standpunkt.41 Alle Religion verliert damit an Gewissheit; es kommt zum «Zwang zur Häresie».42
Viele der genannten Argumente sind plausibel, und es ist empirisch nicht von der Hand zu weisen, dass Modernisierung (Demokratisierung, die Entwicklung des Wohlfahrtsstaats, Alphabetisierung, Industrialisierung) und die Abnahme von Religiosität weltweit Hand in Hand gehen.43 Dennoch ist die Säkularisierungstheorie von verschiedener Seite scharf kritisiert worden. Sie sei zu allgemein, einseitig, ethnozentrisch, gender-blind usw.44 Wie Detlef Pollack gezeigt hat, sind viele dieser Kritikpunkte nur zum Teil gerechtfertigt und beruhen oft auf Übertreibungen und falschen Annahmen.45 Dennoch kann man u. E. drei Punkte an der Säkularisierungstheorie bemängeln:
Erstens fehlt vielen modernisierungstheoretischen Ansätzen eine Akteurperspektive.46 Individuen und kollektive Akteure (wie Gruppen und Organisationen) kommen in diesen Theorien einfach nicht vor; stattdessen ist die Rede von abstrakten Prozessen wie «Differenzierung», «Sozietalisierung», «Pluralisierung», die |24| sich in letztlich nicht geklärter Weise gegenseitig beeinflussen sollen. Dobbelaere bringt dies auf den Punkt, wenn er schreibt:
«Too little attention has been paid to the question of just which people in just which social positions became the ‹sacralizers› or the ‹secularizers› in given situations […] Laicization is not a mechanical process to be imputed to impersonal and abstract forces.»47
Zweitens (und mit dem ersten Punkt zusammenhängend) fehlen den modernisierungstheoretischen Ansätzen klare Vorstellungen über die genauen kausalen Mechanismen, die ihre Erklärung voraussetzt. Solche Mechanismen müssten angeben, wie genau gesellschaftliche Bedingungen die Situation von individuellen und kollektiven Akteuren beeinflussen, aufgrund welcher Interessen, Ressourcen, Glaubensüberzeugungen usw. diese Akteure im Anschluss daran handeln und welche gewollten und ungewollten Effekte sich hieraus ergeben. Nur eine Theorie, die in dieser Weise Makro-, Meso- und Mikrophänomene durch kausale Mechanismen verbindet, ist wirklich erklärend. Stattdessen finden wir bei den meisten modernisierungstheoretischen Ansätzen relativ allgemeine Aussagen über Zusammenhänge von Makroprozessen. Smith formuliert diesen Kritikpunkt folgendermassen:
«A […] problem with secularization theory is that scholars in this tradition often under-specify the causal mechanisms that are presumed to link the social factors that are claimed to have transformed the role of religion in public life with the secularization outcome.»48
Drittens schliesslich führen die beiden genannten Punkte dazu, dass modernisierungstheoretische Ansätze oft relativ abstrakt bleiben, nur schwer mit den konkreten historischen Geschehnissen in Verbindung gebracht werden können und insbesondere nicht in der Lage sind, die grossen historischen, regionalen und nationalen Unterschiede zu erklären. So kritisiert der Historiker Mark E. Ruff an den soziologischen Säkularisierungstheorien:
«[…] these debates have operated with a host of weaknesses. They have consistently lacked a sound empirical basis and have frequently bordered on the ahistorical. […] Most importantly most of the theorists