Ein weiterer Konkurrenzkampf innerhalb des Konkurrenzregimes der Ich-Gesellschaft betrifft die Stellung der (in den meisten Kantonen) als öffentlich-rechtliche Institutionen anerkannten Kirchen. Hier geht es nicht mehr um individuelle Nachfrage, sondern um Fragen der Macht und Einfluss auf die herrschende Ordnung |60| in der Gesellschaft. Da die Anzahl der Konfessionslosen und nicht christlich Religiösen steigt, erscheint die ausschliessliche Anerkennung der Landeskirchen als immer weniger legitim. Dadurch wird ihre Stellung – etwa durch säkularistische Gruppen oder nicht anerkannte religiöse Gemeinschaften – angreifbar.171 So hat es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Versuche gegeben, die Anerkennung der Landeskirchen in verschiedenen Kantonen zu stoppen oder aber an bestimmten Vorrechten zu rütteln. Die Kantone haben ihre Verfassungen denn auch schrittweise in Richtung einerseits einer Lockerung des Kirche-Staats-Verhältnisses und andererseits einer möglichen Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften angepasst. In diesem Zusammenhang ist auch interessant, dass die Grosskirchen in ihren Reaktionen auf die Konkurrenz eingeschränkt sind, denn im neuen Konkurrenzregime wird es nicht goutiert, wenn sie offen mit anderen Konfessionen oder Religionen um Herrschaft ringen. Sie können ihre öffentliche Stellung stärken, wenn sie sich für Themen einsetzen, die dem Gemeinwohl insgesamt dienen, z. B. für Frieden, interreligiösen Dialog und den Einsatz für die Menschenrechte.172
Schliesslich erkennen wir einen wichtigen Konkurrenzkampf rund um den Islam. Hier stehen sich Gegner eines als bedrohlich empfundenen Islams und Akteure gegenüber, die dem Islam die gleichen Rechte wie allen anderen Religionen in der Schweiz einräumen möchten. Die Aktivisten der Islamgegner setzen sich aus verschiedenen Gruppen zusammen: Rechtskonservative rund um die Schweizerische Volkspartei, politisch rechts stehende Mitglieder der evangelischen Freikirchen wie auch Feministinnen, denen die traditionellen Gendervorstellungen vieler Muslime ein Dorn im Auge sind. Die Aktivisten und Aktivistinnen der Islambefürworter setzen sich aus Vertretern der Grosskirchen, Praktikern des interreligiösen Dialogs wie auch Anhängern der multikulturellen Gesellschaft zusammen.173 Per Volksinitiative gelang es 2009 den Gegnern, ein Minarettverbot in der Schweiz durchzusetzen, das nun in Artikel 72 der Verfassung steht.174 Die meisten Befürworter der Anti-Minarett-Initiative lehnten Minarette dabei nicht aus religiösen Gründen ab. Vielmehr sahen sie Minarette als Symbole eines Phänomens, das ihrer Meinung nach die in der Schweiz herrschende Ordnung gefährde. |61|
2.4 Hypothesen
Wenn die allgemeine Theorie und die sozio-historische Konkretisierung der letzten Seiten zutreffen, müssten sie dann nicht auch empirisch zu beobachten sein? Diese Frage führt uns zu einigen zentralen Hypothesen, die wir im vorliegenden Buch testen werden. Wir unterscheiden Hypothesen in Bezug auf den Übergang zur Ich-Gesellschaft, individuelle Anpassungen, Grossgruppen (Milieus) und religiös-spirituelle Anbieter.
Übergang zur Ich-Gesellschaft
H1 Übergang zur Ich-Gesellschaft, Wirtschaftswachstum und religiöse Indikatoren. Es sollte nachweisbar sein, dass in den 1960er Jahren tatsächlich eine grosse Veränderung in verschiedenen Dimensionen vor sich ging (die wir den Übergang zur Ich-Gesellschaft bzw. den Wechsel des Konkurrenzregimes nennen). In diesem Zeitraum sollten wir gleichzeitig eine starke Steigerung des Lebensstandards für die grosse Mehrheit der Bevölkerung (Realeinkommen, persönliche Sicherheit, Mobilität, Freizeitoptionen) wie auch ein starkes Sinken religiöser Praxis finden.
H2 Übergang zur Ich-Gesellschaft und Kulturwandel. Die vor 1960 geborenen Individuen sollten sich in verschiedener kultureller Hinsicht deutlich von den später geborenen unterscheiden. Erstere sollten noch von einer starken, erzwungenen religiösen Sozialisierung berichten, die die Züge des alten Konkurrenzregimes trägt. Bei ihnen sollte man weniger Individualisierung, religiöse Konsumorientierung, eine stärkere konfessionelle Identität und eine geringere Ablehnung von anti-individualistischer Religion (sofern dies die eigene Religion betrifft) finden. Diese Personen sollten im Durchschnitt auch religiöser sein als spätere Generationen. Die in den 1940er Jahren geborene Generation sollte den Wechsel des Konkurrenzregimes oft als biografischen Bruch mit dem eigenen Elternhaus erfahren haben. Die späteren Generationen sollten von einer viel freieren religiösen Sozialisierung berichten und stärker Werte des neuen Konkurrenzregimes aufweisen.
H3 Übergang zur Ich-Gesellschaft und Geschlecht. Männer und Frauen sollten sich in verschiedener Hinsicht deutlich unterscheiden. Vor 1940 geborene Personen sollten noch von stark unterschiedlicher religiöser Sozialisierung für Jungen und Mädchen berichten. Die Frauen dieser Generationen sollten auch noch deutlich religiöser sein als die Männer. Zwischen 1940 und 1970 geborene Frauen sollten in erhöhtem Masse von einer Befreiung aus traditionellen religiösen Denkmustern und z. T. von Versuchen innerhalb der alternativen Spiritualität berichten. Bei Jahrgängen nach 1970 sollte |62| sich eine Angleichung in religiöser Hinsicht zwischen den Geschlechtern bemerkbar machen.
H4 Übergang zur Ich-Gesellschaft und Stadt/Land. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sollten sich in religiöser Hinsicht zunächst vergrössern, da der Übergang zur Ich-Gesellschaft (bzw. zum neuen Konkurrenzregime) in den Städten beginnt. In dem Mass, wie der neue Lebensstil sich von der Stadt aufs Land ausbreitet, sollten sich die Unterschiede wieder verringern.
Individuelle Anpassungen
H5 Säkulares Driften. Die Individuen sollten ein säkulares Driften zeigen, d. h., sie sollten – im Durchschnitt – weniger religiös werden. Dies, weil die Individuen seit den 1960er Jahren sehen, dass sie zu Religion nicht mehr gezwungen sind, dass sie viele Ressourcen und sehr viele säkulare Optionen haben und dass sie ihre Bedürfnisse ihrer Ansicht nach oft besser mit säkularen Institutionen befriedigen können. Säkulares Driften sollte insbesondere zwischen Generationen zu beobachten sein, da Religiosität und Spiritualität stark durch Sozialisierung beeinflusst werden und jede neue Generation