Vom Resultat her betrachtet hatte die große Sehnsucht nach Frieden, sauberer Luft und einem gesunden Körper nur den einen Zweck, sich zum neuen Nationalismus das rechte Gewissen zu machen. Die Bombe ist nicht weg, aber dafür ist die Einheit da; die Bevölkerung nimmt ab, aber dafür wird das Volk wiedergeboren; die Abgase fressen weiter am Wald, doch der Bürger wittert Morgenluft. Im Arsenal des diffusen Schreckens hat er neben der Bombe, der Vergiftung und der Verseuchung eine höchst konkrete Bedrohung ausgemacht: die Ausländer. In keiner Frage sind sich daher auch die Deutschen so einig wie in der Frage: »Zu viele Türken?«
Bereits vor fünf Jahren war offenkundig, daß diese Frage, mit welcher ein Leitartikel der FAZ überschrieben war, keinen Zweifel, sondern eine Feststellung ausdrückte, in der die Aufforderung »Türken raus« schon mitklang. Jener Leitartikel brachte stellvertretend einige Argumente des wiederkehrenden Fremdenhasses vor und las sich wie ins Deutsch eines Regierungssprechers übersetzte rechtsradikale Propaganda: »Auch eine noch so dynamisch eingestellte Gesellschaft erreicht eines Tages die Grenzen ihrer Integrationsfähigkeit. In Deutschland sind in den letzten Jahren Inseln fremder Lebensart, fremder Kulturen entstanden. Keiner weiß, was sie (die Türken) wirklich denken, fühlen und wollen. Für ein Land gibt es nicht nur Grenzen der Integrationsfähigkeit, es gibt auch Grenzen der Toleranz. Liberalität muß da ihre Grenzen haben, wo das Zusammenleben der Gesellschaft in Frage gestellt wird. Der Bogen wird überspannt, wenn in unserer Mitte immer mehr Menschen leben, die wir nicht verstehen, die uns nicht verstehen und die mit uns nicht wirklich zusammenleben wollen – oder können.«
So sähe, wenn es derartiges gäbe, das knapp skizzierte Selbstportrait des deutschen Volkscharakters aus. Man braucht keine Türken zum Beweis heranzuziehen für den Umstand beispielsweise, daß man in Deutschland noch immer besser monatelang tot in seiner Wohnung verschimmelt, als lebendig begraben zu sein inmitten einer Nachbarschaft von potentiellen Blockwarten. Genausowenig bedarf es in Deutschland der Türken, um sich die Grenzen des Verstehens, will heißen die eigene Borniertheit, vor Augen zu führen. Dem Hohn über das gebrochene Deutsch der Ausländer, dem sich die Einheimischen so unschwer assimilieren, korrespondiert die Wut über die eigene Artikulationsunfähigkeit, die in der neuen Vorliebe für die Mundart und im antiintellektuellen Ressentiment sogar als Verdienst erscheint.
Als Kohl vor Jahren seinen mentalen Offenbarungseid ablegte mit der Erfolgsmeldung: »Ich war schon immer gut in Hölderlin«, da wurde er zu Recht Gegenstand der Verachtung, doch mit dem falschen Unterton, als käme es auf Kultur an, nicht nur um Kanzler zu werden, sondern überhaupt; als käme es auf Bildung an und nicht auf Versiertheit, auf Reflexion und nicht auf Bescheidwissen. Kohls sprachliche Visitenkarte ist jedoch nur ein repräsentatives Beispiel für die gesellschaftlich produzierte durchschnittliche Beschränktheit. Diese wiederum kennt keine Schranke außer der, welche sie zwischen sich und den Ausländern errichtet: zu sagen hat niemand etwas, aber alle reden. Je weniger man begreift, desto mehr kommuniziert man. Und wenn keiner etwas versteht, dann versteht man sich untereinander, dann gibt es den Dialog zwischen den Generationen: vom Verstand über die Verständigung zum Verständnis. Beginn und Verlauf dieser Entwicklung in der Bundesrepublik decken sich mit der Zunahme der fremdenfeindlichen Propaganda.
In Berlin beispielsweise muß man nicht Türke sein, um die Kehrseite jenes von Ausländern faszinierten Hochgefühls der Szene kennenzulernen. Bei einer Diskussionsveranstaltung mit Hausbesetzern wurde der eingeladene Referent, der die Hausbesetzerbewegung als eine Mischung aus Rebellion und Heimwerkelei beschrieb,1 mit dem in Deutschland schon immer beliebten Vorwurf bedacht, er sei ein Intellektueller. Wie um diesen Schimpf noch zu steigern fügte jemand hinzu, er solle doch besser wieder nach Westdeutschland an seinen Schreibtisch zurückkehren, hier habe er nichts zu suchen. In André Hellers »heimlicher Hauptstadt der Phantasie« hat nun offenbar auch die Subkultur jenen wachen Instinkt entwickelt, den der Mob dort schon immer besessen hatte: nämlich Kritiker als intellektuelle Ausländer zu identifizieren. Irgendwo hat Adorno einmal geschrieben, daß sich die sture Begeisterung für Neger ohne weiteres mit der Entrüstung über die Unangepaßten vertrage.
Von heute her gesehen war die Verwandlung des Internationalismus der Protestbewegung in den Exotismus der Alternativbewegung, in die Vorliebe für Hopi und Hokuspokus, nur die auswendige Vorbereitung der inwendigen Rückkehr zur Heimat. Dem Rückzug in die Gruppe mit den notwendigerweise kümmerlichen Beutestücken des Imperialismus, wie Drogen, Mythen oder Musik, entsprach der Aufbruch zur Gemeinschaft, aus der kleinen Sekte entsprang die große Gefolgschaft.
Am fernen angeblich ursprünglichen Gemeinwesen sollte das deutsche genesen, und dementsprechend ist auch die neue nationale Identität beschaffen. Mit der Rückverwandlung der deutschen Bevölkerung ins deutsche Volk war der Umweg über die exotischen Regionen der Welt überflüssig geworden und die Angehörigen des neu formierten Kollektivs konnten auf hausgemachte Stammesrituale wie Fackelzüge und Mahnwachen, Thingversammlung und Feldgottesdienst zurückgreifen. Mit anderen Worten: die Begeisterung für ferne Länder und Folklore ging einher mit der Wiedergeburt der Volksgemeinschaft; in der Idolatrie war das künftige Feindbild schon vorweggenommen. In diesem Prozeß wurden die verschiedenen Gruppen dem Bild, das sie von den ganz Anderen hatten, immer ähnlicher, und die regressive Entdifferenzierung der Welt endete mit der Wiederbelebung rassistischer und chauvinistischer Ideologien.
Daß Fremdenhaß und Antisemitismus keine kontingenten Erscheinungen, sondern konstitutiv für die Wiederkehr des nationalen Kollektivbewußtseins in Deutschland sind, schrieb Adorno 1962 in einer Passage, die wie auf die achtziger Jahre gemünzt klingt: »Im Augenblick nährt noch eine besondere Situation antisemitische Regungen. Ich meine den antiamerikanischen Affekt (...) Wirksame Abwehr des Antisemitismus ist von einer Abwehr des Nationalismus in jeglicher Gestalt unabtrennbar.« Damals gab es noch keine Friedensbewegung, kaum ausländische Arbeiter in der Bundesrepublik, und Israel war zwar für das internationale Ansehen der BRD interessant, aber noch nicht für die Rehabilitierung der eigenen Vergangenheit.
Wie der Antisemitismus der realen Erfahrung mit Juden entraten kann, so ist auch die neue Xenophobie nicht abhängig von der Anwesenheit der Ausländer. Deshalb waren Feststellungen wie etwa die Bemerkung Margarete Mitscherlichs, der Antisemitismus sei in Deutschland nicht ausgestorben, obwohl es kaum noch Juden hier gebe, eine implizite Konzession ans antisemitische Ressentiment, wie andererseits die Bestimmung der »Toleranzgrenze« durch den ehemaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen dem Ausländerhaß eine sogar quantitativ bestimmbare Berechtigung zusprach.
Der Sozialdemokrat Kühn erklärte: »Übersteigt der Ausländeranteil die Zehnprozentgrenze, wird jedes Volk rebellisch.« Es bedarf nicht erst der Friedhofsschändungen oder der Brandstiftung in Ausländerunterkünften, also der manifesten Äußerungen von Antisemitismus und Fremdenhaß, sondern es liegt in der Logik des Kollektivbewußtseins beschlossen, daß die gleichgeschaltete Gemeinschaft andere nur als ihr eigenes verzerrtes Spiegelbild wahrnehmen kann. Wenn heute ein Deutscher als Deutscher auftritt, dann wartet er auf eine Gelegenheit.
Die Begeisterung für die Ausländer und deren Lebensgewohnheiten reflektiert bloß die tribalistische Regression der Begeisterten. Daß die Türken dabei, wie es ein Sponti mal salopp formulierte, »rausfallen«, folgert notwendig aus dieser Vergötzung, die umgekehrt die Entwicklung zum neuen Stammesverband bekräftigt. Wenn der Bundestagspräsident erklärte, »daß der Verfassungsbegriff ›deutsches Volk‹ letztlich ethnisch bezogen ist«, dann resümierte er damit zwar die Verwandlung der Bürger in Hammel, aber diese Auskunft hat immerhin den Vorzug, daß sie offen eingesteht, was sich hinter dem propagandistischen Urschrei – hinter Kulturnation und kultureller Identität – verbirgt, wenn es um die Türken geht: Rassismus.
An den Türken wird die Betonung der Differenz, von welcher die kollektive Identitätsfindung zehrt, zum absoluten Unterschied gemacht, der in der Praxis schließlich abgeschafft werden soll: die Türken müssen raus, weil sie draußen sind. Darauf verweisen die im Schwange befindlichen Witzeleien über Türken, denen etwa soviel Esprit innewohnt wie einem Schlagstock. Als dumpfe umgangssprachliche Aufforderung zur Vernichtung stellen sie gewissermaßen einen Ersatz dar für die heute fehlende behördliche