Die Gleichschaltung der Erinnerung. Eike Geisel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eike Geisel
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783862872367
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– Moneta war von 1933 bis 1948 in Palästina und wandte sich vom Zionismus ab –, bemerkt an einer Stelle, die »Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs« stellten die Konfrontation mit einem anderen Typus von Juden dar. Anders als welcher?

      Der Antisemitismus bedarf der Juden nicht. Umstands­los kann in Deutschland das antisemitische Stereotyp, je nach Konjunkturerfordernis, auf ausländische Arbeiter, Studenten, Homosexuelle übertragen werden – doch das zu wissen bedarf es kaum der Forschung, sondern bloß täglicher Zeitungslektüre. Die neueste Umfrage des Soziologen Alphons Silbermann über Antisemitismus in einem Land fast ohne Juden dokumentierte eher das Ineinander von kollektiver Verdrängung und fortwährender pathischer Projektion: Ein Gutteil der Befragten sprach, als käme er direkt aus einer Sportpalastveranstaltung mit Goebbels und phantasierte von ein bis zwei Millionen Juden, deren Einfluß in Wirtschaft und Politik schon wieder übermäßig hoch sei.

      Ein anderes Bild ist aus der gewissermaßen außenpolitischen Vergangenheitsbewältigung entstanden: Im zionistischen Unternehmen erschien der Jude den Deutschen so, als habe er endlich die Lehren aus der Vergangenheit begriffen; aus dem »Parasiten«, wie es völkisch, und aus dem »Luftmenschen«, wie es zionistisch hieß, wurde der »Muskeljude«, wie ihn der zionistische Theoretiker Max Nordau gefordert hatte. Nur als militaristischer Draufgänger und schwitzender Kibbuznik durfte der Jude den Deutschen erscheinen, nicht als Mensch.

      Wäre der Blochsche Topos vom »aufrechten Gang« nicht schon für jede Selbstverständlichkeit okkupiert, an der Biographie Hersch Mendels gewänne er spezifische Substanz. Die Juden Osteuropas waren Objekt einer zweifachen Unterdrückung, der nationalen und sozialen, aber Hersch Mendel verkauft sein moralisches Erstgeburtsrecht nie für ein Linsengericht, schon gar nicht dort, wo es jeder aus Gründen der Selbsterhaltung täte: Inmitten eines aufgehetzten antisemitischen Pöbels, in einer kommunistischen Genickschußpartei – fast alle Personenhinweise in den Fußnoten des Buches sind gewissermaßen Todesanzeigen – oder in den Gefängnissen des faschistischen Polen. Als politischer Häftling hat er so viele Jahre im Gefängnis gesessen wie heutzutage, statistisch errechnet, jemand im Laufe seines Lebens vor dem Fernseher vertrottelt; und im Unterschied dazu hat Hersch Mendel sich durch politische Diskussionen und Lektüre auf ein Niveau emporgearbeitet, um welches ihn viele Professoren beneiden könnten.

      Zwischen Hersch Mendels Biographie und den Lebensläufen aus der deutschen Arbeiterbewegung klaffen Welten, nicht erst in der literarischen Form. In Berlin, wo er sich kurz aufhielt, erfuhr er angelegentlich einer Demonstration diesen Unterschied. Jahre bevor Max Horkheimer die Verwandlung der deutschen Arbeiter in Gewerkschaftsobjekte, Unterstützungsempfänger und schließ­lich Gefolgschaft konstatiert hat, war Hersch Mendel zu der sarkastischen Einsicht über die deutsche Arbeiterbewegung gekommen: Entweder man demonstriert, oder man fragt die Polizei um Erlaubnis, beides zusammen ist nicht zu haben.

      Die Unterschiede in der Entwicklung der Arbeiterbewegung ost- und westeuropäischer Provenienz reflektieren ein Allgemeines, das auch der unterschiedlichen Geschichte der Juden in Polen und Deutschland Konturen verleiht. Wie die Arbeiterbewegung in Deutschland seit der Jahrhundertwende beachtliche Fortschritte erzielt hat bei ihrem Bemühen, zu einer staatstragenden Institution zu werden, so hat die deutsche Judenheit immer mehr aufgehört, eine durch Gebräuche, Sitten und Anschauungen besondere Gruppe zu sein, was mit einem dem biologistischen Denken des 19. Jahrhunderts entlehnten Begriff als »Assimilation« bezeichnet wurde.

      Dieser Prozeß der Angleichung ans falsche Ganze, der die Juden in Deutschland zu oft wahnwitzigen Akten der Selbstverleugnung trieb, hat auch nach der mörderischen Zerstörung der seit je illusionären »deutsch-jüdischen Symbiose« noch kein Ende gefunden. Noch die Überlebenden müssen den Preis entrichten für den nämlichen Sachverhalt, für den andere umgebracht worden sind: Für den Umstand, daß den gleichgeschalteten Massen der anpassungswillige Andere besonders anstößig vorkommt.

      Den Siegern Einhalt zu gebieten, ist der verzweifelte Gestus in den Memoiren Hersch Mendels. Die Erinnerungen umfassen wie sein eigenes, so das Leben der jüdischen Arbeiterbewegung. Seine Kindheit ist die Kindheit des »Bund«, jener ersten großen jüdischen sozialistischen Organisation, bei der die russischen Sozialdemokraten in die Schule gingen und ihre ersten illegalen Flugschriften drucken ließen.

      Alle politischen Umbrüche, vom Bankrott der Zweiten Internationale bis zur Unterwerfung der kommunistischen Parteien unter das Diktat Stalins, sind Umbruchsituationen im Leben Hersch Mendels. Über verschiedene Stationen führt sein Weg aus dem lumpenproletarischen Milieu Warschaus, das man so trefflich geschildert allenfalls noch bei einem längst vergessenen Schriftsteller, bei Schalom Asch (»Mottke der Dieb«) nachlesen kann, bis in die antistalinistische Opposition, die er in Polen zusammen mit dem späteren marxistischen Historiker Isaac Deutscher begründet. Jedoch behauptet sich in den Brüchen seiner Biographie eine seltene Kontinuität: Die Solidarität mit allen Beleidigten. Für Mendel, der frei war von Karrieredenken, politischen Opportunismus, der nie aus Mitleid verschämt, sondern aus Scham empört war und ein Gegner jeglicher Bürokratie, war diese Solidarität die Quelle seines von nationalistischen Tendenzen ungetrübten Kampfes für die Rechte des jüdischen Volkes in Osteuropa.

      Im damaligen Zwischenkriegspolen lebten ungefähr 3,5 Millionen Juden, etwa eine Million mehr als im Israel des Jahres 1971. Von ihnen und den aus verschiedenen Ländern nach Polen deportierten 700.000 Juden waren im August 1943 nur noch ungefähr 300.000 am Leben. Der Vertreter des »Bund« in der polnischen Exilregierung in London, Schmuel Zygelboim, der sich wegen der Passivität der Welt gegenüber dem Schicksal der Juden und weil er erkannt hatte, daß in den Überlegungen der Alliierten kein Platz für sie war, am 12. Mai 1943 das Leben nahm, schrieb in seinem politischen Testament:

      »Ich kann nicht schweigen. Ich kann nicht mehr leben, während die letzten Überlebenden des jüdischen Volkes in Polen, dem ich angehöre, ausgerottet werden. Meine Kameraden im Warschauer Ghetto haben in einem letzten Akt des Heroismus zu den Waffen gegriffen. Mein Schicksal war es nicht, mit ihnen zu sterben, aber ich gehöre zu ihnen und ihren Massengräbern... Ich weiß, daß ein Menschenleben in unserer Zeit wenig bedeutet. Da ich jedoch zu meinen Lebzeiten nichts tun konnte, trage ich vielleicht durch meinen Tod dazu bei, daß die Gleichgültigkeit derjenigen gebrochen wird, die die Mög­lichkeit haben, vielleicht im letzten Augenblick, die noch am Leben gebliebenen polnischen Juden zu retten.«

      So wenig wie der millionenfache hat sein einzelner Tod die Gleichgültigkeit der Welt erschüttert, und seine Zeitgenossen wie die Nachwelt haben seine Hoffnungen gründlich verhöhnt. Die Deutschen konnten das Morden fortsetzen, Auschwitz wurde nie bombardiert, und die KZ standen, wie es sogar dem CDU-Politiker Blüm versehentlich einfiel, nur solange die Front hielt.

      Der jüdische Historiker Joseph Wulf, Verfasser mehrerer längst vergriffener und von der etablierten Geschichts­wissenschaft nie ernstgenommener Bücher über den Nationalsozialismus, berichtete einmal, daß er im KZ Zeuge geworden sei, wie die Deutschen den berühmten 72jährigen jüdischen Gelehrten Simon Dubnow, den Autor einer vielbändigen »Weltgeschichte des jüdischen Volkes« inmitten einer Gruppe von Juden in die Gaskammer getrieben hätten. Dubnow habe sich im letzten Augenblick umgedreht und gerufen: »Schreibt alles auf.« Wenn schon die Passivität der Welt ein Einhalten des Mordens verhindert hatte, so sollten die Opfer in der Erinnerung nicht nochmals getötet werden durch Vergessen. Aber auch die Hoffnung auf Erinnerung erwies sich als Illusion; über dem geringen öffentlichen Interesse an seinen Forschungsarbeiten beging Joseph Wulf Selbstmord.

      1939 begann das Ende, und hier endet auch die Biographie Hersch Mendels. Er ist in den 50er Jahren als zweifach gebrochener Revolutionär, als Überlebender ohne Volk nach Israel emigriert und hat damit, wie er in einer kurzen Nachbemerkung schreibt, die Konsequenz aus seiner vor Hitler undenkbaren Hinwendung zum Zionismus gezogen, ohne sich jedoch zur speziell jüdischen Dissidentenausgabe von der israelischen Propaganda he­rab­würdigen zu lassen. Er war kein Renegat. In seinem Postscriptum kündigt er den zweiten Teil seiner Erinnerungen an. Sie sind, das ist kein Zufall, nie geschrieben worden.9

      Hersch Mendel, wie wenige andere zufällig der Ermordung entkommen, hat kein Buch über die Methoden der deutschen Verbrechen, warnend vor der historischen Möglichkeit einer endgültigen Vernichtung, geschrieben. Seine Erinnerungen handeln vielmehr