1980
Vergessen, vergeben, verdummen
Lieber Peter Dahl,10
Du hast mir ein Leseexemplar von Hans Rosenthals Erinnerungen »Zwei Leben in Deutschland« in der Annahme zugeschickt, daß ich eine Besprechung für Konkret schreiben würde. Warum ich das nicht tun werde, will ich begründen:
Es gibt mit Sicherheit Tausende von Büchern, die besser sind als die Memoiren von Rosenthal, ohne daß ein vernünftiger Redakteur auf den Gedanken käme, ein Wort darüber zu verlieren, welches er sich, sofern er nicht seine Tante oder einen nahen Freund protegieren möchte, für wirklich gute Bücher reserviert. Zahlte mir ein Verlag ein kleines Vermögen, dann würde ich selbst – wie weiland Petronius die dämlichen Verse von Nero gelobt hat – Peter Schneider zum Dichter erheben, aus Carstens einen Demokraten machen und schließlich aus der Betriebsnudel Rosenthal einen Unterhaltungskünstler von Broadwayformat. Aber leider gibts hierzulande keine entwickelte Korruption, sondern nur, wie sich im vorliegenden Fall an einer Besprechung in der Illustrierten Stern sehen läßt, unveräußerliche Übereinstimmung. Dort hat ein Redakteur, dessen Nachname hoffentlich nicht zu unangenehmen Verwechslungen mit Dir Anlaß geben wird, den Köder der Werbeabteilung des Gustav Lübbe Verlags nur für sein Monatsgehalt geschluckt: Rosenthal, die quirlige Frohnatur, nimmt den Deutschen nicht übel, daß sie ihn nur zufällig nicht umgebracht haben. Endlich eine jüdische Absolution, die in mehr Ohren klingt als die Loyalitätserklärung jüdischer Funktionäre für einzelne prominente Ex-Nazis wie Filbinger.
Die ganze Nation, oder vielmehr ihr antikommunistischer Teil, wird für koscher erklärt. Das will die Regierung, das will die Bevölkerung, das will ein reaktionärer Verlag. Und im Stern steht, damit es vollends demokratisch zugeht, warum es allen recht ist: »Andere deutsche Juden, die vor 1945 ähnliches erlebt haben, verfielen in Depressionen, in Aggressionen gegen ihre Landsleute. Er nicht.« (Die einzige Pressefreiheit, derer sich der Stern erkühnt, besteht in einer Variierung der u.a. vom nachmaligen Adenauer-Staatssekretär Globke formulierten Ausführungsbestimmungen zu den berüchtigten »Nürnberger Gesetzen«: Alle Juden mußten ihrem Eigennamen die jüdischen Namen Israel bzw. Sarah einfügen. Der Stern-Redakteur hielt »Isaac« für passender.)
Daß die Zeitschrift Konkret die Erinnerungen von Rosenthal rezensieren möchte, hat seinen Grund, glaube ich, weder in der Darstellung des »ersten« Lebens von Rosenthal, denn über das Schicksal der Juden und das Verhalten der Deutschen gibt es bessere Bücher, authentische Zeugnisse, deren schandbar geringe Auflage ebenso charakteristisch für die Verfassung der deutschen Bevölkerung ist wie die abgeholzten Wälder für die 100.000 Exemplare starke Erstauflage des vorliegenden Buches; noch, denke ich, besteht ein Interesse am wirklichen Verlauf des »zweiten« Lebens, denn da gibt es bessere Karrieren. Ernstzunehmende Kritik der Kulturindustrie würde sich an der conference als leerer Betriebsamkeit, wie sie Rosenthal verkörpert, zuallerletzt entzünden, (er nennt sich selbst »Hans Dampf in allen Gassen« und fällt anderen vor allem dadurch auf, daß er alles organisieren kann, von den Brötchen bis zur Stimmung).
Der schwerfällige schwedische Baron in Offenbachs »Pariser Leben«, der sich mit der beständigen Versicherung »Jetzt geht’s los« Mut zum Amusement zusprechen muß, ist die personifizierte Ausgelassenheit, vergleicht man damit die in Deutschland vorherrschende Form des öffentlichen Vergnügens, die dem Kommando gehorcht: »Spaß muß sein« (so der Titel einer Rosenthal-Sendung), weil beim Lachen niemand was zu lachen hat.
Daß man über Erinnerungen von Rosenthal stolpert, ist ganz natürlich. Nur sollte man den Grund der Empörung genau bezeichnen, und der hat, so meine ich, mit Rosenthal und damit auch mit seinen Memoiren überhaupt nichts zu tun. Daß Rosenthal, außerdem Vorstandsmitglied der jüdischen Gemeinde in West-Berlin, zum Gedenktag des Pogroms von 1938 eine Ausgabe von »Dalli-Dalli« präsentiert hat, gibt uns noch lange nicht das Recht zum subjektiven Affekt moralischer Empörung, wenn wir nun lesen, daß der jüngere Bruder Rosenthals deportiert (verschickt schreibt Rosenthal) und umgebracht worden ist, mehrere Angehörige der Familie ermordet wurden und der Autor nur durch glückliche Zufälle am Leben geblieben ist.
Wir können Rosenthal keinen Vorwurf daraus machen, daß er weder einsichtiger noch mutiger ist als der Rest der Fernsehvolksgemeinschaft. Sie hat aus der Feder von Rosenthal und aus der Perspektive des immer fröhlichen Stehaufmännchens schon in der Hör Zu unter dem Titel »Es war nicht alles Dalli-Dalli« erfahren, daß alles gar nicht so schlimm gewesen sein konnte, und daß der Kampf gegen die kommunistische Beherrschung des Berliner Rundfunks nach 1945 mindestens ebenso wichtig war wie der Sieg der Alliierten über die Nazis. Daß die Opfer der Ordnung von damals sich willfährig zur Rechtfertigung der Ordnung von heute einspannen lassen, kann für uns kaum heißen, Rosenthal besondere Beachtung zu schenken, sondern über Verhältnisse zu reden, die Peggy Parnass einmal mit dem monumentalen Satz auf die einfache Formel gebracht hat: »Das Opfer tröstet den Henker.«
Wir wissen, daß manchem Journalisten, der über die Protestbewegung berichtete, erst dann klar wurde, daß der Kopf zum Denken da war, als die Polizei ihn mit Knüppeln traktierte, doch wir müssen uns vor dem Mißverständnis hüten, daß zwischen Verfolgung und Kritik ein logischer Zusammenhang bestünde. Daß jemand im KZ gesessen hat, daß jemand (wie Rosenthal) Verfolgung und Ermordung von Angehörigen erlitten hat, ist immer nur ein Beweis für die Unmenschlichkeit des Systems und nicht, so betrüblich der Umstand uns auch erscheinen mag, die Voraussetzung für eine unnachgiebige und jener Demütigungen eingedenkende Kritik.
Es gibt keine fortschrittliche Interpretation der Nürnberger Gesetze, sondern bloß ihre radikale Abschaffung: Nicht dann schon, wenn man es unterläßt, die anderen zu verteufeln, sondern erst, wenn man aufhört, von ihnen zu verlangen, sie hätten als Unterdrückte und Verfolgte auch noch die besseren Menschen zu sein – erst dann findet die Diskriminierung ein Ende. Daher die frühen Phantasien der philosemitischen Linken von einem sozialistischen Israel wie die spätere abstruse Kehrtwendung: Zionismus führt zum Faschismus.
Wenn Rosenthal mit Bundesverdienstkreuzen, Bambis, Goldenen Kameras und ähnlichem Unsinn behängt wird, dann heißt dies nur, daß hierin auf spezifisch nachkriegsdeutsche Weise der gelbe Stern aufgehoben ist: Bezeichnet und belohnt wird der endgültige Verzicht der Opfer auf Rache (und Rosenthal gehört, wie er berichtet, zu den ersten, die kleine Nazis verteidigen gegen die Besatzungsmacht; er bringt Ilse Werner in den Sender und boxt einen »immer strikt unpolitischen« Mitarbeiter des Reichssenders, Pelz von Felinau, frei). Im Vergessen oder der affirmativen Erinnerung (wie sie nach »Holocaust« en vogue ist) daran, was ihnen und anderen geschah, sind sie den Verfolgern von einst und den Repräsentanten von heute ähnlich und damit akzeptabel geworden. Dem infamen »jüdische Mitbürger« hält Rosenthal das nicht weniger niederträchtige »jüdische Menschen« entgegen. Auf den jährlichen Wochen der Widerlichkeit, wo die Davongekommenen zu Brüdern herabgewürdigt werden, böte sich der mit viel Reklameaufwand propagierte erste Teil der Erinnerungen als Rezitationsstoff unter dem Titel »Zur Banalität des Guten« an: Ganz rührend berichtet Rosenthal von den Mutterinstinkten seiner Beschützerinnen und dem Abscheu, ein Kaninchen oder ein Huhn zu schlachten. Im Land der Kinderfeindlichkeit und der Tierliebe gab es nach »Holocaust« in der Bunten Illustrierten die Schlagzeile »Die KZ-Katzen« und Bild formulierte die einzig gültige antifaschistische Maxime: »Gemein – Halla zu Seife verarbeitet«. In jenen Passagen finden sich alle Muttis der großen Hör Zu-Familie – ein ideales Weihnachtsgeschenk – als aufrechte Antifaschistinnen wieder, die den fröhlichen »Hansi« gern an ihr Herz gedrückt hätten. Gottseidank wird hier die urbane Version von Rosegger (»Als ich noch der Waldbauernbub war«) oder das Märchen vom »Hans im Glück« gegeben, und kein alter Jude oder keine kranke Jüdin müssen um Unterschlupf betteln.
»Zwei Leben in Deutschland« (wobei das zweite so uninteressant ist wie das erste und einzige von Lou van Burg) ist, da sagt Rosenthal ausnahmsweise die reine Wahrheit, »ein verkleinertes Spiegelbild dessen, was diesem Land widerfahren ist«, aber was hier wem und wie widerfährt, wenn er schreibt, daß er Deutschland »trotz oder gerade wegen der Leidenszeit, die mir auferlegt