»Unser Gästehaus«, sagte Bob.
»Es gibt Besucher hier?«
»Selten. Morgen erwarten wir Tom, der tags darauf Ayala heiraten wird. Sie haben sie ja bereits kennengelernt. Ein paar Hochzeitsgäste kommen natürlich auch. Aber das ist es nicht, was ich Ihnen zeigen wollte.«
Bob wies mit einer breiten Geste auf die Szenerie, die sich vor ihnen entfaltete. »Was sehen Sie?«
Von hier aus hatte Luke einen größeren Überblick als durch das Fenster. Offensichtlich befand sich das Gästehaus am Rand des Dorfes, denn er sah nur wenige Häuser zwischen den Bäumen, alle aus Holz und von bunten Hecken oder Sträuchern umgeben. Rechts machte die Straße eine Biegung und passierte in ihrem weiteren Verlauf ein langgestrecktes Gebäude, das wie eine Scheune oder ein Stall aussah, bevor sie im Dschungel verschwand. Menschen waren keine zu sehen.
Luke hob den Blick zum gegenüberliegenden und vielleicht anderthalb Kilometer entfernten Kraterrand: eine dunkle, gezackte Silhouette vor einem wolkenlosen Himmel, an dem sich bereits das strahlende Halo der Sonne abzeichnete. Es konnte nur noch Minuten dauern, bis der Tag auch hier unten anbrach. Über den dunkelgrünen Baumkronen schwebten Nebelschleier und verliehen dem Kraterinneren eine unwirkliche, beinahe mystische Atmosphäre. Luke erinnerte sich an seinen ersten Blick auf diese Landschaft und den Eindruck, den dieser hinterlassen hatte.
»Ein Paradies!«, entfuhr es ihm.
Bob nickte. »Viele Leute würden es so bezeichnen, und mit Recht. Es gibt keine Autos auf Hiva und keinen Strom.«
Luke sah auf. »Kein Strom? Aber im Tunnel …«
»… läuft ein Generator, für das Licht. Doch hier, im Inneren der Insel, gibt es keine Elektrizität, kein Fernsehen oder Internet, kein Telefon, keinen Luxus und keine Kriminalität – und nicht mehr als zehn einfache Gesetze.« Sein Blick heftete sich auf Luke. »Das funktioniert natürlich nur in einer kleinen Gemeinschaft. Etwa 150 Menschen leben ständig auf Hiva. Was, glauben Sie, geschieht, wenn Fremde in dieses Paradies, wie Sie es nannten, eindringen? Mit ihren Kameras und Mobiltelefonen? Mit ihren Dollars, Euros, Rubeln oder Yen und dem, was man in aller Welt dafür kaufen kann?«
Abermals ließ Luke seinen Blick über die Landschaft gleiten. Die ersten Sonnenstrahlen erleuchteten die oberste Nebelschicht. Es sah aus, als glühe der Himmel auf.
»Ich begreife, worauf Sie hinauswollen. Aber das gibt Ihnen nicht das Recht …«
Bob sah an ihm vorbei und hob die Hand. »Gamaleh!«
Luke wandte den Kopf. An dem Wassertrog vor dem Stall stand ein Mädchen, nackt wie Deli, das zu ihnen herüberblickte. Es kam im Laufschritt herbei.
»Darf ich Ihnen meine zweite Tochter vorstellen?«, sagte Bob. »Das ist Gamaleh.«
Luke starrte das Mädchen an, unfähig, ein Wort hervorzubringen. Die Ähnlichkeit mit Ayala war unverkennbar, doch Gamaleh trug ihr schwarzes Seidenhaar offen und von den Schultern an gewellt; und sie war noch schöner als ihre Schwester.
Ein verschüttete Erinnerung tauchte in ihm empor wie ein Déjà-vu-Erlebnis: das Bild eines nackten Mädchens, das sich über ihn beugte und ihn aus Augen musterte, die blaugrün waren wie das tosende Wasser eines Gebirgsbaches.
»Ich … kenne dich«, stieß er hervor. »Aber wann …«
»Gamaleh hat mir geholfen, Sie hierher zu bringen, nachdem Sie auf dem Weg zusammengeklappt waren«, sagte Bob.
Unendlich langsam nickte Luke. Es gelang ihm nicht, sich von diesen fesselnden blaugrünen Augen loszureißen, und Gamaleh schien es ebenso zu ergehen. Sie standen sich gegenüber, mit ineinander verschränkten Blicken, als ob ein unsichtbares Band sie eine. Und Luke überwältigte das Gefühl, als habe er Gamaleh nicht erst gestern zum ersten Mal gesehen, flirrend wie eine Fata Morgana durch den Schleier seiner Benommenheit, sondern als habe ihr Porträt schon immer in seinem Herzen gewohnt und sei nun, durch eine unbegreifliche Magie, zu Fleisch und Blut geworden.
Später erinnerte er sich nicht mehr, wie lange sie beide dort gestanden hatten, erstarrt, verzaubert.
»Gamaleh, was hältst du davon, Luke heute Nachmittag das Dorf zu zeigen?«
Das Mädchen reagierte erst, als sein Vater es am Arm berührte. Die Blicke der beiden lösten sich voneinander, der Bann war gebrochen.
Gamaleh straffte sich. »Gern! Und wir könnten Erins Peak besteigen!« Sie wandte sich an Luke. »Das ist der höchste Punkt des Kraterrands, 437 Meter. Dort!« Sie deutete auf eine Stelle jenseits des Stallgebäudes.
»Langsam, langsam!« Ihr Vater machte eine beschwichtigende Geste. »Er muss sich erst einmal erholen.«
Luke räusperte sich. »Ich fühle mich schon wieder topfit!« Mit Gamaleh zusammen könnte ich glatt den Mount Everest ersteigen, jetzt sofort!
Bob lachte und schlug ihm auf den Rücken. Eine Welle des Schmerzes raste durch Lukes Körper wie ein feuriger Blitz. Er zuckte zusammen und keuchte.
»Mal sehen.« Bob wandte sich an seine Tochter. »Sind die Ponys versorgt?« Gamaleh nickte, und er fügte hinzu: »Deine Mutter wartet auf dich – Hochzeitsvorbereitungen.« Er sah wieder Luke an. »Bei solchen Anlässen feiert ganz Hiva.«
Gamaleh verabschiedete sich von Luke und ihrem Vater mit der gleichen Geste, die die Frauen von Hiva Männern gegenüber stets zu gebrauchen schienen, und eilte davon.
»Ich muss auch weiter«, sagte Bob. »Es gibt eine Wasserleitung zu erweitern und eine Menge anderer Dinge zu tun. Nun ja, bei nur neun Männern … Wir sehen uns!«
Entgeistert starrte Luke ihm nach.
Nur neun Männer – bei 150 Einwohnern?
Sein Blick schweifte zu dem Stall. Ponys? Ein anderes Bild tauchte aus seinem Gedächtnis empor: das einer Frau, die einen Sulky zog, in einen Lederharnisch gepresst und aufgezäumt wie ein Pferd.
Er schüttelte den Kopf. Was für ein Unsinn! Das zumindest habe ich wirklich nur geträumt!
6
»Er heißt Luke!«, platzte Gamaleh heraus, als sie das Haus ihrer Eltern betrat.
Coreen und Deli hielten in ihrer Arbeit inne. Das Wohnzimmer hatte sich gründlich verändert, seit Gamaleh im Morgengrauen zu den Ställen aufgebrochen war: Zwei hölzerne Arbeitstische schlossen die Lücke zwischen dem runden Esstisch und dem »Piratengefängnis«, das als stete Mahnung unter dem Seitenfenster stand. Alle drei Tische waren mit den langen Blättern des Bananenbaums ausgelegt, auf denen sich Zentner von Früchten türmten, deren Duft den Raum erfüllte: Neben Bananen, Zitronen und Ananas gab es Kokosnüsse, Grapefruits, gelbgrüne Papayas, erdbeerähnliche Litschis, dunkelviolette Avocados und natürlich die unverzichtbaren gelb-grün-roten Mangos. Coreen und Deli waren dabei, die besten und schönsten Früchte auszusortieren; sie sollten das Hochzeitsbüfett zieren.
»So, so, er heißt Luke.« Gamalehs Mutter lächelte. »Wie geht es ihm denn?«
»Schon viel besser.« Gamaleh ergriff eine der aussortierten Litschis und brach die Schale auf. »Heute Nachmittag zeige ich ihm das Dorf.«
Deli runzelte die Stirn, wobei sich ihre schwarzen Augenbrauen beinahe berührten. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du Zeit dazu hast. Es gibt so viel …«
»Es war Vaters Idee«, sagte Gamaleh mit vollem Mund und legte den Kern an den Rand eines Blatts. Sie glaubte, Deli damit den Wind aus den Segeln genommen zu haben, doch diese knallte eine aufgebrochene Kokosnuss auf den Tisch.
»Er gehört nicht hierher! Er ist keiner von uns!«
»Was hätte Bob machen sollen?«, fragte Coreen in besänftigenden Tonfall. »Ihn zurück ins Meer werfen wie einen zu mageren Fisch? Er ist ein Schiffbrüchiger, wie