Insel der Ponygirls. Tomàs de Torres. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tomàs de Torres
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944145839
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Schläfen schienen glühende Drähte gespannt zu sein.

      Sein Blick irrte durch den Raum. Ein heller Fleck am Rand des Lichtkreises der Öllampe zog seine Aufmerksamkeit an. Er blinzelte die Schlieren aus den Augen.

      Dort, auf dem bloßen Holzboden, saß mit untergeschlagenen Beinen eine nackte Frau.

      Luke schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Die Drähte hinter seiner Stirn glühten stärker. Er stöhnte. Als er die Augen wieder öffnete, war die Frau verschwunden.

      Verrückt!, dachte er. Entweder ich bin verrückt oder ich halluziniere. Vielleicht bin ich auch tot …

      Er stützte sich auf beide Arme und hob den Oberkörper an, doch sofort erfasste ihn ein Schwindel. Seine Muskeln gehorchten ihm nicht mehr, und er fiel zurück in die Laken. Sein Geist trieb zurück in das Nichts, aus dem ihn ein Geräusch, ein Geruch oder der Schmerz gerissen hatte.

      Er erwachte, als ihn jemand am Arm packte. Ein tiefer, röchelnder Atemzug füllte seine Lungen. Er hustete.

      Diesmal war es heller in dem Raum. Zwei schalenförmige Öllämpchen, verziert wie altrömische Museumsstücke, standen auf dem Nachttisch, daneben ein Becher. Und über Luke schwebte das bärtige Gesicht eines Mannes. Die nahtlos in eine Halbglatze übergehende Stirn war in Falten gelegt.

      Luke fuhr auf. Wieder drehte sich der Raum um ihn, aber diesmal glitt er nicht in die Bewusstlosigkeit zurück.

      »Wo bin ich?« Jedes einzelne Wort schmerzte in seiner Kehle und in seinem Kopf.

      Die Augenbrauen des Mannes vor ihm hoben sich. Er blickte kritisch, aber nicht unfreundlich auf Luke herab. »Wissen Sie das nicht?«

      Eine Bewegung lenkte Lukes Aufmerksamkeit auf den Hintergrund des Raums. Eine zweite Gestalt schob sich in den engen Lichtkreis, gedrungen und breitschultrig, mit einem blonden Bürstenhaarschnitt. Dieser Mann war deutlich jünger als der andere, seine Haltung angespannter. Beide trugen bunte T-Shirts und kurze Hosen.

      Luke wälzte sich herum und unterdrückte mühsam einen Aufschrei. Erst jetzt bemerkte er den Verband, der mindestens die Hälfte seines Rückens bedeckte.

      Der Mann mit der Halbglatze machte eine beschwichtigende Geste. »Sie haben sich verletzt. Nicht schlimm, aber Sie haben viel Blut verloren. Was suchen Sie hier?«

      Luke hob den Kopf, die einzige Bewegung, die er sich im Moment zutraute. »War das wirklich eine nackte Frau vorhin, oder habe ich geträumt?«

      »Deli, meine Schwägerin. Sie hat Sie verarztet.«

      »Klar.« Luke ließ den Kopf auf das Kissen zurücksinken. Er war noch nicht überzeugt, dass all dies Wirklichkeit war. Er schloss die Augen, wartete ein paar Sekunden und öffnete sie dann wieder. Die beiden Männer standen immer noch vor seinem Bett. Seine Hände glitten nach unten: Unter der dünnen Decke war er nackt.

      Der Mann mit der Halbglatze deutete auf den anderen. »Das ist Sam, und mein Name ist Bob.« Er sah Luke an.

      »Einfach nur Bob?«, fragte Luke und hustete abermals.

      Bob nickte.

      »Mein Name ist Luke.«

      »Einfach nur Luke?«

      Luke brachte ein Grinsen zustande. Er deutete auf den Becher. »Wasser?«

      Bob reichte ihm den Becher. Er war aus Holz geschnitzt und mit klarem, kühlem Wasser gefüllt. »Langsam«, mahnte er, als Luke gierig danach griff. »Deli wird Ihnen gleich etwas zu essen bringen. Wie fanden Sie die Insel?«

      In drei großen Zügen leerte Luke den Becher. Beinahe sofort fühlte er sich besser. Mit einem dankbaren Nicken gab er Bob den Becher zurück.

      »Ich bin von Saint Lucia ge… aufgebrochen, heute Morgen. Oder war es gestern?«

      »Wir fanden Sie am späten Nachmittag. Jetzt ist es zwei Stunden nach Sonnenuntergang. Also heute.«

      Luke hob den linken Arm, doch anstelle seiner Uhr war an seinem Handgelenk nur ein breiter Streifen weißer Haut.

      »Sie brauchen hier keine Uhr«, sagte Bob. »Aber falls Sie sie doch vermissen: Ihre Sachen sind im dort im Schrank, auch die aus dem Boot.«

      Natürlich, dachte Luke, sie haben das Boot längst gefunden.

      »Sie sind von Saint Lucia aufgebrochen – wohin? Nach Afrika? Wollten Sie eine Weltumrundung machen, mit einem Motorboot? Ohne Papiere?«

      Luke Blick schweifte zu Sam, der zum ersten Mal gesprochen hatte. Sein Tonfall war ein sarkastischer gewesen. Mit in die Arme gestemmten Seiten sah der vierschrötige Mann auf Luke herab.

      »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen«, antwortete Luke müde. »Niemand weiß, wo ich bin.«

      Sam und Bob warfen sich einen Blick zu, der einfach zu deuten war. Wäre Luke nicht so erschöpft gewesen, hätte er bestimmt eine intelligentere Antwort gegeben. Tausend Fragen lagen ihm auf der Zunge, aber er war zu schwach, um sie zu stellen. Und es war zweifelhaft, ob sie beantwortet würden. Offenbar umgab ein Geheimnis die Insel, und Bob und Sam waren besorgt, dass dieses Geheimnis entdeckt wurde.

       Was geht hier vor?

      Diese Frage, erkannte Luke, war zumindest im Moment zweitrangig. Keinesfalls erschien es klug, den Männern zu enthüllen, dass er vor Montero und der Organisation, die hinter ihm stand, geflüchtet war. Möglicherweise war das Geheimnis der Insel den beiden wichtiger als das Leben eines Gestrandeten, den zudem niemand vermisste.

      Luke schloss die Augen, und unvermittelt kam die Erinnerung an die schrecklichen Ereignisse dieses Morgens zurück wie eine Luftblase, die aus der Tiefe des Meeres emporschoss: Seine Ankunft auf Saint Lucia, der Tod von Fred Wilson, die Flucht mit dem Motorboot der Mörder …

      Bobs ruhige Stimme riss ihn in die Gegenwart zurück. »Wir reden wohl besser morgen weiter, wenn Sie sich etwas erholt haben.« Er gab Sam einen Wink, und die beiden gingen in Richtung Tür. Im Rahmen wandte sich Bob noch einmal um, nun kaum mehr als ein hoher Schatten. »Laotse sagt: Wer nicht genügend vertraut, wird kein Vertrauen finden.«

      Dann verschmolz er endgültig mit der Dunkelheit.

       Laotse – und eine nackte Schwägerin? Bin ich verrückt oder ist er es?

      Auf der Seite liegend, starrte Luke zu der offenen Tür, durch die nicht der kleinste Lichtstrahl hereindrang. Minutenlang war nur das Zirpen von Grillen zu hören, manchmal unterbrochen durch das Keckern eines Vogels.

      Er war gerade am Einschlafen, als ihn das Geräusch von Schritten aufschreckte.

       Es war also doch keine Halluzination!

      Die gleiche Frau, die er beim ersten Erwachen gesehen zu haben glaubte, stand vor dem Bett und sah auf ihn herab. Deli hatte Bob sie genannt. Sie mochte um die 40 sein, trug die schwarzen Haare offen und in der Mitte gescheitelt und hatte einen verkniffenen Zug um den Mund; und sie war tatsächlich nackt bis auf einen stählernen Halsreif.

      Als ihre Blicke sich kreuzten, setzte Deli die Schüssel, die sie in beiden Händen hielt, auf dem Nachttisch ab, verbeugte sich und führte dabei die zusammengelegten Hände an die Stirn. Dann kniete sie vor dem Bett nieder, nahm die Schüssel wieder auf und hielt sie Luke hin. Ein hölzerner Löffelstiel ragte aus einer gelben Brühe, in der weiße Fleischstückchen schwammen.

      »Was ist das?«, fragte Luke, ohne seinen Blick von der nackten Frau zu wenden.

      »Hühnersuppe.«

      Sie stellte die Schüssel vor Luke auf die Matratze. Zögernd tauchte er den Löffel in die Suppe und führte ihn zum Mund. Zu seiner Verblüffung schmeckte es hervorragend, das Hühnerfleisch war das beste, das er jemals gegessen hatte. Heißhungrig machte er sich darüber her. So sehr konzentrierte er sich darauf, dass er erst bei Delis Rückkehr bemerkte, dass sie weg gewesen war. Sie nahm die leere Schüssel und reichte ihm einen großen Becher.

      »Eine Fruchtsaftmischung.«