Insel der Ponygirls. Tomàs de Torres. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tomàs de Torres
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783944145839
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füllte den Rahmen der Tür beinahe aus.

      Die Frauen verstummten, senkten die Köpfe und führten die aneinandergepressten Handflächen zur Stirn. Sogar Coreen in ihrem Käfig legte die Handflächen aneinander, wenn sie die Geste auch nicht zu Ende führen konnte.

      »Was ist hier los?«

      Da der Blick ihres Vaters auf ihr zu ruhen kam, antwortete Gamaleh, nun wesentlich gefasster: »Ich war mit Tante Delis Sulky auf dem Weg zu Irina, als ein Mann auf den Weg trat. Ein Fremder! Und er hatte kein Hemd an!«

      Bob, Gamalehs Vater, trat vollends in den Raum. Ein Mann um die 45 mit einer beginnenden Glatze, einem gepflegten schwarzen Vollbart und einem ruhigen, stählernen Blick. Er trug einen blauen Arbeitskittel über einem weißen T-Shirt.

      »Wo war das?«

      »Etwa zwei Kilometer von hier, jenseits des Reservoirs.«

      Etwas blitzte in Bobs braunen Augen auf. »In der Nähe des Hafens?«

      Gamalehs Kopf ruckte hoch. »Ja, genau!«

      »Ein einzelner Mann? Was tat er?«

      »Er … stand einfach nur da. Ich bin sofort umgekehrt.«

      Bob überlegte nur kurz. »Ich hole Sam und Dave. Gamaleh, du fährst voraus zu den Ställen. Schirre drei Ponygirls an – nein, vier, du wirst ein frisches brauchen. Du begleitest uns.« Er wandte sich an Deli und Sariyah: »Ihr geht nach Hause – jetzt.«

      Die beiden standen sofort auf. Ayala wagte einen Einwand: »Wenn es Tom ist, sollten wir …«

      »Tom kann es nicht sein, die Schiffe kommen erst übermorgen.«

      Mehr hörte Gamaleh nicht mehr. Zwei rasche Schritte brachten sie auf die Terrasse, zwei weitere zu Delis Sulky. Koko, der Papagei, der neugierig herbeigeflogen war und sich auf dem Geländer niedergelassen hatte, musterte sie mit schiefgelegtem Kopf.

      »Tut mir leid«, sagte Gamaleh zu Suhani und schwang sich auf den Sitz. »Wir müssen zu den Ställen. Es eilt.«

      Die Glöckchen klingelten, das Ponygirl stemmte sich hoch. Sein heller Körper glänzte von Schweiß, und es atmete immer noch schwer. Aber Gamaleh musste es nur sacht mit der Peitsche am Rücken berühren, um ihm zu zeigen, dass sie es ernst meinte. Der Sulky wendete und preschte in Richtung der Ställe am Südrand des Dorfes, wo auch der Rundweg begann, der an der Innenseite des Kraters entlangführte.

      Dort angekommen, verschwendete Gamaleh keine Zeit damit, Suhani auszuschirren, sondern klinkte nur eine der Ketten, die am Wassertrog befestigt waren, in ihr Halsband ein. Während das Ponygirl den Kopf ins Wasser tauchte und gierig soff, lief Gamaleh durch die offen stehende Stalltür. Düsternis und der charakteristische Stallgeruch empfingen sie. Sie rümpfte die Nase. Es war hoch an der Zeit, die Boxen auszumisten, und sie wusste, wen es treffen würde: Sie selbst hatte ab morgen Stalldienst.

      Der langgestreckte Holzbau verfügte über zehn Boxen, davon waren derzeit sieben belegt, Suhani eingerechnet. Gamaleh entriegelte hastig die ersten vier Boxen, kettete die Ponygirls los und führte sie hinaus. Die Harnische trugen sie stets, daher musste sie ihnen nur die Kopfgeschirre und die beschlagenen Stiefel überstreifen und sie vor die Sulkys spannen, die im Schuppen nebenan lagerten. Auf die Glöckchen verzichtete Gamaleh.

      Kaum standen die vier Gefährte bereit, kamen Gamalehs Vater sowie Sam und Dave im Laufschritt herbei. Beide trugen eine ähnliche Arbeitskleidung wie Bob.

      Die Männer verloren keine Zeit. Bob gab Gamaleh einen Wink vorauszufahren, schwang sich in den zweiten Sulky und ergriff die Peitsche. Sekunden später waren die drei Männer und das Mädchen unterwegs.

      Sie benötigten kaum 15 Minuten für die Strecke, und sie fanden den Fremden sofort. Gamaleh entfuhr ein Ausruf des Schreckens: Er lag verkrümmt auf dem Weg, sein Rücken war dunkel von verkrustendem Blut.

      Während Gamaleh wortlos im Hintergrund wartete, wie es sich für eine Frau im Beisein von Männern geziemte, untersuchte Bob den Fremden kurz.

      »Er lebt«, sagte er dann, »aber er ist bewusstlos.« Er wandte sich zu seiner Tochter um. »Wir bringen ihn ins Gästehaus, hol den großen Wagen. Rasch! Und ihr beide kontrolliert den Tunnel. Irgendwo muss sein Boot sein, vielleicht ist noch jemand an Bord.«

      Aufgewühlt und erfüllt von düsteren Gedanken, jagte Gamaleh zurück zu den Ställen. Soweit sie sich erinnern konnte, war noch niemals ein Fremder auf Hiva erschienen. Boote kamen in unregelmäßigen Abständen und brachten Güter, die hier nicht hergestellt werden konnten, sowie Männer, die hier verheiratet waren. Manchmal befanden sich Besucher an Bord, aber wie Tom, Ayalas zukünftiger Ehemann, waren diese stets angemeldet.

      Was mag er hier wollen?, dachte Gamaleh. Und wie hat er den Eingang gefunden?

      Furcht stahl sich in ihr Herz. Was hatte das Erscheinen des Fremden zu bedeuten? War die Insel entdeckt worden? Falls dies geschähe – das hatte sie in der kleinen Schule des Dorfes gelernt –, würde sich das Leben aller Bewohner radikal ändern, und nicht zum Besseren.

      Doch als das Stallgebäude in Sichtweite kam, beruhigte Gamaleh sich wieder. Das Vertrauen in ihren Vater und die anderen Männer war grenzenlos. Noch nie hatte es ein Problem gegeben, das die Männer nicht hatten lösen können.

      Der große Wagen, mit einem Kutschbock und einer offenen Ladefläche, erforderte vier Ponygirls. Gamaleh schirrte ihr eigenes und Delis, das noch an den Trog gekettet war, aus und spannte sie neu ein. Dann holte sie die beiden letzten Ponys aus dem Stall, schirrte sie ebenfalls ein und sprang auf den Kutschbock. Sie ließ die Peitsche schnalzen.

      »Hü!«

      Sam und Dave waren noch nicht zurück, als Gamaleh wieder bei ihrem Vater eintraf. Gemeinsam hoben sie den bewusstlosen Fremden auf die Ladefläche. Er war groß, aber nicht so schwer, wie Gamaleh befürchtet hatte.

      Sie musterte sein bartloses Gesicht. Das sandfarbene Haar bildete einen harten Kontrast zu der sonnenverbrannten Haut, die sich straff über eine breite Stirn und hohe Wangenknochen spannte: ein nordisches Gesicht. Ansätze von Fältchen entdeckte Gamaleh nur in den Augenwinkeln. Für sie, die in ihrem ganzen Leben kaum mehr als zwei Dutzend Männer gesehen hatte, war es schwer, sein Alter zu schätzen. In jedem Fall war er deutlich jünger als ihr Vater und älter als Dave mit seinen 21 Jahren.

      Eine bislang unbekannte Wärme durchströmte Gamaleh, während sie den Fremden betrachtete.

      Welche Farbe mögen seine Augen haben?, fragte sie sich.

      Blau, dachte sie dann. Ganz gewiss. Zu diesem Gesicht passen nur blaue Augen.

      In diesem Moment schlug er die Augen auf, und Gamaleh erschrak so sehr, dass sie mit einem Aufschrei zurückzuckte. Ein Blick aus klaren blauen Augen traf sie und glitt an ihr hinab. Seine Lippen bewegten sich.

      »Verrückt!«, verstand Gamaleh.

      Sein Kopf fiel zur Seite. Er hatte erneut das Bewusstsein verloren.

      Gamaleh sah ihren Vater an. Was meinte er?, lautete ihre stumme Frage. Eine Frau sprach in Gegenwart eines Mannes nur, wenn sie dazu aufgefordert wurde.

      Bob lachte. »Es hat ihn wohl überrascht, dass du nackt bist. Wahrscheinlich glaubte er zu halluzinieren.«

      »Aber wie anders als nackt sollte ich sein?«, fragte Gamaleh verblüfft. »Ich bin eine Frau!«

      Ihr Vater antwortete nicht, sondern schwang sich auf den Kutschbock. Gamaleh nahm neben ihm Platz.

      »Wir bringen ihn ins Gästehaus. Deli soll die Wunde am Rücken versorgen. Sie ist nicht tief; ein paar Tage Ruhe sollten ihn wiederherstellen. Hü!«

      Die vier Ponygirls stemmten sich ins Geschirr und trabten los.

       4

      Eine Flamme durchdrang die Dunkelheit, gelb und flackernd. Der Geruch von Olivenöl schwebte im Raum.

      Luke schlug die Augen vollends auf. Er lag auf dem Bauch,