»Guten Morgen, Doktor. Warum haben Sie mir denn gestern abend nicht gesagt, daß Sie heute morgen eher frühstücken wollen?«
»Guten Morgen, Frau Hella. Gestern abend wußte ich es noch nicht. Ich konnte aber nicht mehr schlafen, darum habe ich schon einmal die Kaffeemaschine angestellt. Ich frühstücke jedoch wie gewöhnlich. Lassen Sie sich also ruhig Zeit. Im Augenblick reicht mir eine Tasse Kaffee, damit ich richtig munter werde. Durch das Eintreffen meiner Mutter ist es gestern abend doch später geworden.«
Hella Sandberg brachte eine Tasse und füllte sie mit dem aromatischen Getränk.
»Das tut gut, Frau Hella, Sie können mir gleich noch einmal nachgießen «
»Gern, Doktor, und in zehn Minuten ist Ihr Frühstück fertig. Ich schaue mal nach, ob der Bäckerjunge schon die Brötchen gebracht hat.«
Als Kay gegen sieben Uhr seine Wohnung verließ, zog Hanna auf der gegenüberliegenden Seite gerade die Tür zu. Sie begrüßten sich herzlich, und Hanna sagte:
»Na, dann wollen wir mal wieder. Weißt du schon, wann Frau van Enken heute zur Klinik kommen wollte?«
»Nein, aber ich denke, so wie gestern gegen zehn Uhr. Ich habe sie gestern abend zufällig auf einem Spaziergang getroffen, aber ich habe nicht über die Zeit gesprochen, zu der sie heute wohl kommen will. Doch das spielt ja keine große Rolle.«
»Und sonst, Kay? Bist du bei Madlon ein bißchen weitergekommen?«
»Nein, und sei mir nicht böse, aber ich möchte im Augenblick auch nicht näher darauf eingehen.«
»Gut, das verstehe ich. Ich bin die Letzte, die sich in deine Privatangelegenheiten drängen möchte.«
Sie betraten das Klinikgebäude und begrüßten Martin Schriewers, der auch wenige Minuten zuvor seinen Dienst in der Aufnahme angetreten hatte.
Während Hanna wie jeden Morgen auf die Krankenstation ging, begab Kay sich in sein Sprechzimmer, um noch einmal alle Unterlagen für die Frühbesprechung durchzugehen. Die Unterlagen und Röntgenaufnahmen von Nils legte er obenauf, denn sein Hauptaugenmerk würde die Erkrankung und die damit verbundene Behandlung des Jungen sein.
Als er und Hanna später ihre Mitarbeiter um sich versammelt hatten, kam er auch sofort auf den Fall Nils zu sprechen. Er gab zuerst die nötigen Erläuterungen dazu und beantwortete anschließend die Fragen seiner Mitarbeiter.
Michael Küsters hielt sich besonders lange vor den in die Lichtplatte eingespannten Aufnahmen auf, um sie millimetergenau anzusehen.
Kay, der ihn dabei beobachtete, trat hinter ihn und erkundigte sich:
»Was halten Sie von der Sache, Dr. Küsters?«
»Sieht nicht gerade gut aus. Es ist schon ein Jammer, daß wir trotz so klarer Aufnahmen nicht mit Bestimmtheit sagen können, ob es sich um eine gute oder bösartige Sache handelt.«
»Ja, leider, Dr. Küsters. Wir müssen also die pathologische Untersuchung der Gewebeprobe abwarten. Ich möchte die Probe gleich nach der Visite entnehmen und per Boten auf die Reise schicken. Hier, schauen Sie sich die Aufnahmen genau an. Auf der einen sieht es aus wie eine spindelförmige Gewebesammlung, auf der anderen Aufnahme könnte man annehmen, daß es sich um eine in einem Sack befindliche Flüssigkeitsansammlung handelt. Das ist ein Umstand, der mich ein wenig irritiert. Ich bin selbst gespannt darauf, was wir für Erkenntnisse erlangen. Wie würden Sie denn vorgehen, wenn die Entscheidung bei Ihnen läge?«
»Wenn die Untersuchung ergibt, daß es sich um ein Spindelzellensarkom handelt, denke ich, daß die einzig richtige Entscheidung die Amputation des betroffenen Beins wäre.«
»Sie würden also nicht erst den Versuch unternehmen, das Bein des Jungen trotzdem zu retten?«
»Es wäre ein Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt wäre, Dr. Martens. Es ergäbe sich für den Jungen nur ein quälender Tod.«
»Im Prinzip haben Sie recht. Trotzdem kommt für mich eine Amputation wirklich nur dann in Frage, wenn es keinen anderen Ausweg gibt. Ich werde alles, aber auch alles tun, um diesem Kind das Bein zu erhalten.«
Kay sah in die Runde und wollte dann wissen:
»Hat noch jemand Fragen zum vorliegenden Fall?«
»Ja, ich«, meldete sich Wenke Andergast zu Wort. »Können die Begleiterscheinungen wie Müdigkeit und Appetitlosigkeit nicht auch andere Ursachen haben?«
»Das ist eine berechtigte Frage, Dr. Andergast. Da organisch nichts feststellbar war, könnten diese Symptome seelischen Ursprungs sein, aus der familiären Situation heraus. Der Junge leidet darunter, daß seine Eltern sich getrennt haben, weil er beide Elternteile sehr liebt.«
»Das würde schon einiges in einem anderen Licht erscheinen lassen, Herr Dr. Martens, das sollten wir bedenken.«
»Vielleicht hängt es damit zusammen, ich will es nicht ausschließen. Wir werden erst einmal abwarten, bis wir die andere Sache hinter uns gebracht haben. Wenden wir uns jetzt dem nächsten Fall zu.«
Die Frühbesprechung dauerte noch etwa eine halbe Stunde, und während dieser Zeit warf Hanna immer wieder einen Blick auf Kay. Sie dachte über die Worte der Kinderpsychologin Wenke Andergast nach. Auch sie pflichtete innerlich der Ärztin bei, und Kay hatte es ja auch mit wenigen Worten auf den Punkt gebracht. Darüber zu sprechen, war für ihn sicher nicht einfach gewesen, weil er ja indirekt selbst betroffen war.
Als alle anderen den kleinen Konferenzraum verlassen hatten, fragte Hanna:
»Wen willst du nach der Gewebeprobeentnahme nach Lüneburg schicken?«
»Ich habe gestern schon mit dem Pfleger Dieter Häßler gesprochen. Er wird die Probe direkt ins pathologische Institut bringen. Es würde zu lange dauern, wenn wir sie per Post verschicken würden. Ich nehme an, daß unsere Anästhesistin inzwischen bei unserem Patienten ist, um ihn über die Narkose aufzuklären.«
»Ich habe heute schon mit ihr gesprochen. Sie wird ihm neben der Narkose für den kleinen Eingriff heute einer Spritze auch schon alles für die große Operation erklären, um ihm gleich die Furcht vor der Narkose zu nehmen. Gleich übermorgen gehen wir die Sache durch. Ich denke, daß bis dahin alle restlichen Untersuchungsergebnisse da sind.«
»Ja, deshalb schicke ich Dieter Häßler ja auch gleich heute los. Er wird das Ergebnis aus dem Institut heute schon wieder mitbringen. Ich habe die Zusage von Professor Löblich, daß er sich persönlich darum kümmert, weil es so dringend ist.«
»Ach ja, ich hatte gar nicht mehr an Professor Löblich gedacht. Es ist auch besser, wenn wir schnell Genaueres wissen. Ich werde jetzt meine Sprechstunde abhalten. Ich hoffe, daß bei dir alles klappt. Du hast ja in Michael Küsters einen sehr tüchtigen Assistenzarzt an deiner Seite. Vielleicht ist Frau van Enken auch schon in der Klinik eingetroffen.«
»Möglich. Sie hat ja jetzt keinen weiten Weg hierher. Bis später.«
*
Dr. Dirksen-Andergast, die junge Anästhesistin der Kinderklinik, hatte gerade das Krankenzimmer von Nils verlassen, als ihr auf dem Gang die Mutter des Jungen entgegenkam.
»Wie geht es meinem Jungen heute morgen?«
Besorgt sah Madlon Martina an.
»Es geht, Frau van Enken. Er ist zwar ein wenig aufgeregt, doch das ist eine ganz normale Reaktion, die gleich vorbei ist. Ich habe ihm gerade etwas zur Beruhigung gegeben. Sie müssen wissen, daß ich Narkoseärztin bin und ihm gerade alles über die Narkose erklärt habe. Er hat alles gut verstanden. Die Gewebeprobe, die der Chefarzt gleich entnehmen wird, ist ja eigentlich nicht als Operation zu bezeichnen und wird auch nicht lange dauern. Ich muß jetzt hinunter, denn der Junge wird in wenigen Minuten für den Eingriff nach unten gebracht. Machen Sie sich keine Sorgen.«
Mit einem beruhigenden Lächeln wandte