»Ja, schon – aber wenn man ihn in ein Heim steckt, wird er vielleicht richtig organisch krank. Sie sagten doch eben, daß dem Jungen eine richtige Familie fehlt. Na, und die hat er im Heim nun wirklich nicht.«
»Da stimme ich Ihnen voll und ganz zu, Herr Kollege«, sagte Hanna bereitwillig. Jetzt meldete sich Kay wieder zu Wort.
»Ich spüre doch, daß du noch ein As im Ärmel hast. Willst du es uns nicht zeigen?«
»Ich bin bisher noch gar nicht dazu gekommen, es mit dir zu besprechen. Nein, nein, Herr Mettner«, unterbrach sie sich, als Dr. Mettner Anstalten machte, sich zu erheben und das Zimmer zu verlassen. »Bitte, bleiben Sie. Ich finde, das gehört zu Ihrem Fachgebiet, und Sie können mir sagen, ob ich es richtig gemacht habe, obwohl ich bisher noch nichts unternehmen konnte.«
Und dann berichtete sie von dem Besuch der Markmanns und davon, was sie mit ihnen besprochen hatte. Und endlich schloß sie:
»Es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn das nicht klappen würde, oder?«
»Du bist sicher, daß Florian mit einer solchen Lösung einverstanden wäre?«
»Ich bin mir selten einer Sache so hundertprozentig sicher gewesen, Kay«, erwiderte Hanna ernst. Kay wandte sich Mettner zu und wollte wissen:
»Wie denken Sie darüber, Mettner?«
»Ich denke, daß Ihre Schwester eine ausgezeichnete Psychologin ist, Chef. Dem Jungen könnte gar nichts Besseres passieren, als in die Familie seines Freundes aufgenommen zu werden.«
»Du bist also einverstanden, wenn ich mit dem Jugendamt verhandle?« fragte Hanna eifrig. »Sie werden froh sein, daß wir eine Lösung gefunden haben, denn Heimplätze sind rar. Wenn wir, als Kinderklinik, alles befürworten, wird man schon in Florians Sinne entscheiden.«
Das war auch die Meinung der beiden Herren. Hanna sah sie beide zufrieden an und sagte dann mit entschlossenem Gesicht:
»Als erstes müssen wir Grete Vollmers von Florian fernhalten. Das übernehme ich.«
Aufatmend lehnte sich Kay in seinem Stuhl zurück und warf Hanna einen halb dankbaren und halb bewundernden Blick zu.
»Da bin ich dir aber sehr dankbar«, sagte er erleichtert. »Ich mag so beherrschende Menschen nicht besonders. Und wenn sie dazu weiblich sind, schon gar nicht. Meiner Ansicht nach können Frauen ruhig tüchtig oder meinetwegen auch emanzipiert sein. Aber wenn sie dann noch anfangen, alles und jeden beherrschen zu wollen, sind sie mir schlichtweg ein Greuel.«
»Nun, ich kann auch nicht behaupten, daß ich Frau Vollmers ausgesprochen freundschaftliche Gefühle entgegenbringe.« Hanna lachte leise auf bei dieser Vorstellung, während sie fortfuhr: »Aber ich traue mir durchaus zu, mit ihr fertig zu werden. Wenn ich Frau Vollmers übernehme, solltest du dich mit dem Lüneburger Jugendamt in Verbindung setzen.«
»Das werde ich liebend gern tun, und zwar sofort«, erklärte Kay und griff schon nach dem Telefonhörer. Da wußte Hanna, daß die Angelegenheit in den besten Händen war und die Schlacht schon so gut wie gewonnen war.
*
Hanna hatte Martin Schriewers, der an der Aufnahme saß, wenn er nicht gerade mit dem Krankenwagen einen Einsatz zu fahren hatte, gebeten, sie sofort zu benachrichtigen, wenn Grete Vollmers ihren Neffen besuchen wollte.
»Ich möchte Frau Vollmers unter allen Umständen sprechen, bevor sie zu Florian geht, Martin«, betonte Hanna noch einmal. Sie wußte, daß sie sich auf Martin Schriewers verlassen konnte. Er würde nur tun, was sie von ihm erwartete, und sich eher in Stücke schlagen lassen, als eine ihrer Anweisungen nicht ganz genau zu befolgen.
Am Nachmittag des übernächsten Tages war es dann soweit. Martin sah durch die breite Glastür, wie Grete Vollmers ihren Wagen auf dem Parkplatz abstellte und dann zielstrebig auf die Eingangstür zukam.
Martin ging ihr entgegen und sah sie verbindlich-kühl an.
»Frau Dr. Martens läßt sie bitten, Frau Vollmers, zuerst zu ihr zu kommen, bevor Sie Florian aufsuchen.«
»Ist wieder was geschehen?« wollte Grete Vollmers alarmiert wissen. »Ist was mit Florian? Liebe Zeit, der Junge macht einem aber auch nichts als Sorgen.«
Grete Vollmers sah Martin alarmiert an. Und als er nicht sofort auf sie einging, wollte sie aufgeregt wissen:
»Wo ist Florian eigentlich? Ist wieder was Neues, weil Frau Dr. Martens mich sprechen will?«
»Das glaube ich nicht. Ich habe vorhin gesehen, daß Florian mit seinem Freund in den Garten gegangen ist. Also muß er sich doch wohl fühlen, denke ich mir.«
»Na, dann will Frau Dr. Martens mir wahrscheinlich nur sagen, daß Florian entlassen wird. Wenn er schon wieder im Klinikgarten spazierengehen kann, dann kann es mit seiner Krankheit auch nicht weit her sein, oder?«
»Das kann ich nicht beurteilen, Frau Vollmers. Ich bin hier nur der Hausmeister und für die Annahme zuständig.«
»Na schön. Hören wir uns an, was Frau Dr. Martens zu sagen hat.« Grete Vollmers ging mit den ihr eigenen energischen Bewegungen davon. Martin sah ihr nach und dachte, daß es ihm ungleich lieber war, Grete Vollmers von hinten zu sehen statt von vorn. Aber er hütete sich, sich das anmerken zu lassen. Schließlich wußte er, was sich gehörte.
Hanna hatte am Fenster ihres Sprechzimmers gestanden und gesehen, daß Grete Vollmers angekommen war. Sie wußte, daß Florian und Jörg im Garten waren, und war froh, Florian in sicherer Entfernung seiner Tante zu wissen. Sie setzte sich hinter ihren Schreibtisch und wartete auf Grete Vollmers, die gleich kommen mußte. Und schon klopfte es. Hanna forderte mit freundlicher Stimme zum Eintreten auf und ging Grete Vollmers entgegen, reichte ihr die Hand und bat sie, Platz zu nehmen.
Grete ließ sich mit ablehnendem Gesichtsausdruck auf den Stuhl vor dem Schreibtisch nieder und sah Hanna an, als sei sie entschlossen, genau das Gegenteil von dem zu sagen, was man vielleicht von ihr erwartete. Als Hanna noch nicht sofort zu sprechen begann, ergriff Grete die Initiative.
»Sicher wollen Sie mir sagen, daß Florian nun doch kerngesund ist, daß Sie nichts bei ihm gefunden haben und ich ihn wieder mit heimnehmen kann, nicht wahr?«
»Aber nein, ganz und gar nicht, Frau Vollmers. Ich will zwar über Florian mit Ihnen sprechen, aber ich habe nichts davon gesagt, daß Sie ihn mit heimnehmen können.«
»Nicht? Aber wie ich erfuhr, geht er schon wieder mit diesem – diesem Markmann-Jungen im Klinikgarten spazieren. Also ist er wieder gesund und kann heim.«
»Noch bin ich die behandelnde Ärztin, Frau Vollmers«, sagte Hanna freundlich, aber auch in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Und als eben diese behandelnde Ärztin werde ich Florian noch nicht nach Hause entlassen, weil ich weiß, daß er schon bei der Nachricht, daß er mit heim soll, einen schlimmen Schmerzanfall bekommen wird.«
»Na, wenn diese sogenannten Schmerzanfälle keine organischen Ursachen haben – und das scheint mir doch der Fall zu sein – dann werde ich sie ihm schon austreiben, darauf können Sie sich verlassen. Dazu braucht der Junge nicht in der Klinik zu bleiben.«
»Ich denke, das zu entscheiden, sollten Sie ruhig mir überlassen.«
»Warum wollten Sie mich dann sprechen?« fragte Grete Vollmers ablehnend.
»Weil ich mit Ihnen über Florian reden will. Sie sagten mir, daß Sie beabsichtigen, Florian in ein Heim zu geben.«
»Sehr richtig. Ich sehe nicht ein, daß ich mich mit ihm abplagen soll. Mein Bruder hat mich ganz schön mit Florian hängen lassen.«
»Sagten Sie nicht, daß er monatlich eine stattliche Summe für seinen Sohn überweist?«
»Na