Portugals Nummer 17 verdoppelt seinen Einsatz auf der linken Seite. Er rennt vor und zurück, er trickst und täuscht. Er verwirrt seine Gegenspieler und spielt einen Pass nach dem nächsten, doch es gibt keine Abnehmer für seine Zuspiele. In der 83. Minute versucht er selbst sein Glück und hält drauf: ein kraftvoller Schuss, der knapp am linken Pfosten von Antonios Nikopolidis vorbeizischt. Cristiano blickt zum Himmel und faltet die Hände zum stillen Gebet. Irgendjemand weiter oben muss sein Flehen erhört haben. Zehn Minuten später trifft er. Es ist sein erstes Tor in einem offiziellen Spiel der Nationalmannschaft. Voraus geht ein von Figo hereingebrachter Eckstoß von der linken Seite. Ronaldo springt kraftvoll in die Luft und setzt zu einem wuchtigen Kopfball an. Die Kugel beschreibt eine perfekte Flugbahn. Nikopolidis kann nur dastehen und zusehen.
Es ist ein Moment großer Freude für den 19 Jahre alten Jungen, der gerade einmal neun Monate zuvor sein Debüt in der portugiesischen Nationalmannschaft gegeben hat. Am 14. August 2003 hat er einen Anruf von seiner Mutter bekommen, die ihm von seiner ersten Berufung für das Freundschaftsspiel gegen Kasachstan berichtete. Kurz darauf bestätigt auch sein Berater Jorge Mendes die gute Nachricht. „Ich bin froh und stolz, zu den Auserwählten zu gehören“, sagt Ronaldo. „Ich bin dem Trainer sehr dankbar. Das ist ein ganz besonderer Augenblick in meinem Leben. Alles Gute ist auf einen Schlag gekommen – erst Manchester United und jetzt die Nationalmannschaft. Ich will spielen, und ich will gewinnen.“
Am 20. August 2003 streift Cristiano im portugiesischen Chaves zum ersten Mal das rot-grüne Trikot über. Luiz Felipe Scolari bringt ihn in der zweiten Halbzeit für Figo. Mit einem Mal ist er umringt von den Champions, zu denen er stets als Vorbilder aufgeschaut hat. Seine Mentoren in der Mannschaft, Luís Figo und Rui Costa, haben ihm geraten, ruhig zu bleiben und so wie immer zu spielen. Insbesondere legen sie ihm nahe, sich nicht von seinen Emotionen leiten zu lassen. Der Jungspund folgt ihrem Rat, und die Presse ernennt ihn hinterher zum Spieler des Spiels. Scolari gratuliert ihm. Zwei Monate darauf, am 11. Oktober in Lissabon, wird er gegen Albanien zum ersten Mal in der Startaufstellung stehen. Und Schritt für Schritt verdient er sich auch seinen Platz im Kader für die EM 2004.
Doch es ist eine Europameisterschaft mit einem Fehlstart in Form einer unerwarteten Niederlage. „In einem so kurzen Wettbewerb darf man nur einmal einen Fehler machen, und wir haben unseren nun schon gemacht“, sagt Scolari. „Nun geht es in den Spielen gegen Russland und Spanien um Leben oder Tod.“ Glücklicherweise ist Portugal in diesen Spielen der Gruppe A wieder in Form. Scolari passt seine Strategie an. Er trifft unpopuläre Entscheidungen und setzt die alten Hasen Fernando Couto und Rui Costa auf die Bank. Stattdessen baut er auf den Porto-Block mit Innenverteidiger Ricardo Carvalho und Spielmacher Deco – und auf Cristiano Ronaldo.
Eusébio, der ehemalige Nationalspieler und Star von Benfica Lissabon, hat die Mannschaft beschworen, die Köpfe nicht hängen zu lassen. Und die Spieler tun, wie ihnen geheißen. Sie dominieren die folgenden beiden Partien und sichern sich mit Toren von Maniche und Rui Costa einen 2:0-Sieg über Russland und durch einen Treffer von Nuno Gomes ein 1:0 über Spanien. Zusammen mit Griechenland ziehen sie in die nächste Runde ein.
Gegen die Russen kommt Cristiano in der 78. Minute für Figo in die Partie. Elf Minuten später schlägt er eine Flanke von links, die Rui Costa in aller Ruhe verwerten kann. Gegen Spanien spielt er von Beginn an und bringt sofort die gegnerische Verteidigung durcheinander. Nacheinander lässt er Carles Puyol und Raúl Bravo alt aussehen. Er arbeitet Chancen heraus und verteilt ausgezeichnete Pässe an seine Mannschaftskollegen. Cristiano tut alles das, was Scolari von ihm verlangt hat.
Im Viertelfinale geht es gegen England. Wieder einmal kreuzen sich bei einer EM die Wege dieser beiden Nationen. Vier Jahre zuvor hat Portugal in Eindhoven durch Tore von Figo (aus 35 Metern), João Pinto und Nuno Gomes 3:2 gewonnen. Abgesehen von dieser historischen Rivalität, bringt diese Partie drei äußerst interessante Duelle mit sich. Das erste lautet Scolari gegen Sven-Göran Eriksson. Bei der WM 2002 schickte Scolari als brasilianischer Nationaltrainer die von Eriksson trainierten Engländer im Viertelfinale nach Hause. Das zweite Duell heißt Figo versus Beckham. Die Leistung der beiden Stars von Real Madrid spiegelt ihre Saison bei den Königlichen wider. Figo war voll da, als Portugal ihn am meisten brauchte. Beckham dagegen ließ zwar hin und wieder sein Können aufblitzen, gehörte aber meistens eher zu den Statisten.
Das dritte Duell findet zwischen Ronaldo und Rooney statt und ist möglicherweise das interessanteste, zumindest mit Blick auf die Zukunft. Während man bei dieser EM so manchen Veteranen wie Italiens Christian Vieri zum letzten Mal bei einem großen internationalen Turnier sieht, betreten Jungstars wie Milan Baroš, Bastian Schweinsteiger oder Arjen Robben die Bühne. Rooney und Ronaldo haben bisher sämtliche Erwartungen erfüllt. Im September wird der 18 Jahre alte Rooney den FC Everton verlassen und für eine Ablöse von 25,6 Millionen Pfund, also über 38 Millionen Euro, bei Manchester United anheuern. Er steht in der Startaufstellung gegen Portugal und hat bereits vier Treffer erzielt, zwei gegen die Schweiz und zwei gegen Kroatien. Damit ist er der jüngste Torschütze in der Geschichte der Europameisterschaft. Darüber hinaus hat er sich in schwierigen Phasen auch als Führungsspieler erwiesen.
Ronaldo hat zwar die ersten beiden Partien auf der Bank begonnen. Doch gegen Spanien hat er sich durch einen fantastischen Auftritt seinen Platz in der Startaufstellung gesichert. Gemeinsam mit Deco und Nuno Gomes stellt er die Offensivreihe gegen England, während Rooney zusammen mit Michael Owen, Europas Fußballer des Jahres 2001, den englischen Sturm bildet. Und Owen ist es auch, der in der dritten Minute das erste Tor der Partie erzielt, dank eines furchtbaren Fehlers von Costinha. Cristiano dagegen beginnt überragend: Er gibt Vollgas, beherrscht seine linke Seite und bereitet Englands Ashley Cole einige Probleme.
Und was macht Rooney? Der sorgt nach einem Freistoß, den David Beckham direkt vor dem Strafraum ausführt, beinahe für den zweiten Treffer. Doch nach nur 23 Minuten ist das Spiel für ihn zu Ende. Nach einem Tritt von Jorge Andrade geht er zu Boden. Zunächst sieht es gar nicht so schlimm aus, doch Rooney muss sichtbar humpeln und wird drei Minuten darauf gegen Darius Vassell ausgetauscht. Er hat sich den dritten Mittelfußknochen am rechten Fuß gebrochen. So muss das Duell mit Cristiano bis zur WM 2006 warten.
Derweil kann England die Führung zunächst trotz eines portugiesischen Sturmlaufs verteidigen. Doch in der 83. Minute köpft Hélder Postiga eine fantastische Flanke von Simão ins Tor und erzwingt so die Verlängerung der Partie. Beide Mannschaften sind erschöpft, doch Portugal scheint leichte Vorteile zu haben. Für Cristiano ist es, als wenn das Spiel gerade erst begonnen hätte. Phil Neville kassiert eine Gelbe Karte, nachdem er ihn umgesenst hat. In der 110. Minute glaubt Rui Costa, dass sein herrlicher Schuss in das Netz von David James bereits die Entscheidung ist. Doch England kommt noch einmal zurück: Fünf Minuten später erzielt Frank Lampard das 2:2. Es gibt Elfmeterschießen.
Beckham schickt den ersten Ball über den Querbalken, und auch Rui Costa haut die Kugel in die Wolken. Dann ist Cristiano an der Reihe. Er legt sich das Leder umständlich auf dem Punkt zurecht und schickt es, ohne Nerven zu zeigen, halbhoch in die Maschen. Portugals Torwart Ricardo wehrt den Versuch von Darius Vassell ab. Kurz darauf tritt er selbst an und sichert seinem Team aus elf Metern den Einzug ins Halbfinale.
Dort erwartet sie die nächste harte Nuss: die Niederländer. Die Jungens von Dick Advocaat konnten sich erst über die Playoffs für das Turnier qualifizieren. Auch ihre drei Gruppenspiele haben ihnen alles abverlangt. Im Viertelfinale haben sie die Schweden im Elfmeterschießen besiegt. Die Partie gegen den Gastgeber will Advocaat jetzt erst recht gewinnen. Er will es für die Mannschaft, aber er will den Fans auch beweisen, dass selbst ein so kleines Land den Gipfel