Der Regierungsstil aus Gesetzgebung und willkürlichen Entscheidungen hoch- und höchstrangiger politischer Führungsebenen, der das sogenannte Dritte Reich prägte, führte zu einer oft undurchsichtigen Mischung aus amtlichen Verordnungen und privaten Anweisungen von Staats- und Parteigranden. Mit Blick auf die Kultur war die eigenmächtige persönliche Anordnung während der ganzen Dauer der Diktatur maßgeblicher als das geschriebene Gesetz, was die Freiheit der Künstler ebenso einschränkte wie die Qualität ihrer Werke. Bisweilen hing die Existenz eines solchen Werkes von der Laune eines selbst ernannten Zensors oder einem in der Regulierung von Einzelfällen sich ergehenden Hitler ab.
Diese Zensoren konnten sich durch Anhäufung von Macht zu kleinen Potentaten mausern. Der Langweiler Rosenberg brachte es indes lediglich zum Reichsleiter in der Partei und war demzufolge jenen Parteifunktionären unterlegen, die zusätzlich Regierungsämter innehatten, sei es im Reich oder auf regionaler Ebene. So war Hermann Göring beispielsweise Ministerpräsident von Preußen, Reichsminister für Luftfahrt und Beauftragter für den Vierjahresplan, Goebbels Propagandaminister und Gauleiter von Berlin. Dennoch gelang es Rosenberg hier und da, unter Ausnutzung diverser Möglichkeiten seines Parteiamts, als Zensor sogar Goebbels auszustechen. So vermochte er Rudolf Wagner-Régenys Oper Die Bürger von Calais, die unter der musikalischen Leitung Herbert von Karajans an der Berliner Staatsoper aufgeführt wurde, vom Spielplan zu verbannen, obwohl die Spielstätte zu Görings Machtbereich zählte. Grund dafür war ein Libretto des aus Weimarer Zeiten bekannten Caspar Neher, demzufolge es in der Bürgerschaft von Calais eine »unterdrückte Gruppe von Menschen« gab, »die verzweifelt um Frieden verhandeln«. Hinzu kam Nehers düsteres Bühnenbild. Beides ließ sich im Januar 1939, als NS-Deutschland sich auf den Krieg vorbereitete, als schlechtes Vorzeichen werten. Außerdem beruhte das Libretto auf einem Stück von Georg Kaiser, und die Musik erinnerte an die von Kurt Weill.96
Nicht nur ein Reichsleiter konnte sich derart einmischen, auch einem Gauleiter mochte dies gelingen. So verbot der Münchner Gauleiter Adolf Wagner, der schon mehrfach in den städtischen Kunstbetrieb eingegriffen hatte, am Karfreitag 1940 eine Aufführung von Schillers Drama Maria Stuart mit der abstrusen Begründung, dass ein pro-katholisches Stück die Gefühle der Protestanten verletzen würde. »Der nationalsozialistische Staat ist an den kirchlichen Dingen beider Konfessionen desinteressiert.« Tatsächlich hatte Wagner seinen persönlichen Geschmack durchsetzen und Schillers Klassiker ein für alle Mal von der Bühne verjagen wollen. Immerhin setzte sich Wagner in diesem Fall über Goebbels’ Reichsdramaturgen Schlösser hinweg.97
Normalerweise hatte Göring in seinem preußischen Machtbereich mehr zu sagen als Rosenberg und konnte es sogar mit Gauleiter Goebbels aufnehmen. Als 1939 eine Berliner Bühnenproduktion von Shakespeares Richard II. für die Reichstheaterwoche in Wien vorgesehen war, was das Propagandaministerium verhindern wollte, legte er denn auch erfolgreich Protest ein. Die Aufführung war von seinen Schützlingen am Staatstheater, Gustaf Gründgens und Jürgen Fehling, auf die Bühne gebracht worden, Gründgens sollte die Hauptrolle spielen, und Görings Frau, die ehemalige Schauspielerin Emmy Sonnemann, setzte sich dafür ein. Goebbels unternahm nichts weiter.98 Ein anderer Fall aus dem Jahr 1939 wendete sich zu Goebbels’ Gunsten. Göring beschwerte sich bei Hitler über Werner Egks Oper Peer Gynt – vielleicht sah er sich als fetten Troll karikiert, vermutlich gefiel ihm auch die grellfarbene Musik nicht. Hitler aber war von der Oper hingerissen, verwarf die Beschwerde und setzte sich persönlich für Egks Fortkommen ein; er verschaffte ihm sogar eine Stellung als Abteilungsleiter in Goebbels’ Reichsmusikkammer.99
Im Juni 1933 hatte Hitler dem Propagandaministerium über die normalen Regularien hinaus Aufsichtsbefugnisse aus anderen Ministerien übertragen. Bestimmte Prärogativen zur Kunst übernahm Goebbels vom Außenministerium und die Überwachung von Rundfunk und Presse vom Innenministerium.100 Derart gerüstet, konnte sich der Propagandaminister bei Bedarf über das Regelwerk hinwegsetzen und die Kulturproduktion in jeglicher Form und auf jegliche Manier nach Lust und Laune überwachen. Für gewöhnlich konzentrierte er sich auf die Beurteilung von Filmen; er besaß Vorführräume in seinem Büro und seinen zwei Wohnsitzen. Gern erörterte er Filmprojekte bereits im Vorfeld mit Regisseuren und Schauspielern, etwa mit Jenny Jugo im März 1935, als es um die Verfilmung von Shaws Pygmalion ging. Hoffte er auf substanzielle Verbesserungen, legte er einen Film mitunter für einige Zeit auf Eis wie im Fall von Land der Liebe. Von April bis Juni 1937 mussten die Produzenten auf das Placet warten. Wie viele Filme Goebbels – jenseits des üblichen Prozederes – persönlich einer Prüfung unterzog, ist nicht bekannt; Experten schätzen, dass bis 1942/43 etwa zwei Drittel der gesamten Filmproduktion von ihm gesichtet wurde, danach weniger als die Hälfte. Doch selbst das ist, angesichts seiner vielen anderen Pflichten, eine erstaunliche Menge.101
Hitler war ebenfalls kinointeressiert; in der Reichskanzlei wie in seinem privaten Landsitz, dem Berghof auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, gab es Vorführräume. Häufig schaute er sich zusammen mit Goebbels Filme – nicht nur zu Prüfzwecken – an, gewöhnlich aber privatim in kleinem Kreis.102 Dabei entschied er sich auch zu Verboten: Weiße Sklaven (1936) mit Camilla Horn in der Hauptrolle etwa berührte das Thema Bolschewismus,103 Das Leben kann so schön sein (1938) konnte als Kritik an der Sozialpolitik des Regimes aufgefasst werden. Es ging um die Geschichte eines frisch verheirateten Paars, das allen Schwierigkeiten zum Trotz das Leben meistern will. Der junge Protagonist rennt sich die Hacken ab, um Versicherungen zu verkaufen, während seine schwangere Frau mit Heimarbeit das Einkommen aufzubessern sucht. Doch gelingt es ihnen in ihrer schäbigen Ein-Zimmer-Mietwohnung nicht, ihre Situation in den Griff zu bekommen. Die Botschaft des Films: Ein mittelloses junges Ehepaar kann sich ein Kind kaum leisten. Hitler begriff die Aussage sehr wohl, bekam einen Wutanfall und untersagte den Film. Für ein vermeintlich nach Lebensraum dürstendes Volk war schon aus demografischem Kalkül der Gedanke, Kinder seien unerwünscht, unmöglich.104
Doch Hitlers eigentliches filmisches Interesse richtete sich auf die Wochenschauen. Sie verkörperten aus seiner Sicht den Wesenskern des Mediums: als ideales Instrument zu politischer Steuerung. Regelmäßig unterrichtete er Goebbels über seine Einschätzung, verfügte Schnitte oder Änderungen. Häufiger als bei Spielfilmen war Hitler dazu bereit, Entscheidungen von Goebbels zu revidieren. Schon lange vor Kriegsbeginn beharrte er darauf, die Wochenschau müsse das Heroische betonen, Marschkolonnen von Soldaten zeigen – ein sicheres Zeichen dafür, dass Hitler schon Jahre im Voraus wusste, wohin seine Politik führen sollte. Ziel war der Angriffskrieg, in dessen Verlauf auch die Kunst, die jetzt seiner Kontrolle unterstand, sich würde wandeln müssen.105
Der Expressionismusstreit
1912, im Alter von 26 Jahren, nahm Gottfried Benn, Sohn eines ostelbischen Geistlichen, seinen Abschied vom Militär. Der junge Arzt trat in Berlin eine Stelle als Pathologe an und veröffentlichte noch im selben Jahr sein erstes Buch, einen schmalen Gedichtband mit dem Titel Morgue – Eindrücke, die er bei seinen Autopsien gewonnen hatte. Der Umschlag zeigt ein Geige spielendes Skelett bei einem nackten Mädchen, das sich zurücklehnt. Das vierte Gedicht (mit dem Titel Negerbraut) beginnt: »Dann lag, auf Kissen dunklen Bluts gebettet/der blonde Nacken einer weißen Frau./Die Sonne wütete in ihrem Haar/und leckte ihr die hellen Schenkel lang/…/Ein Nigger neben ihr: durch Pferdehufschlag/Augen und Stirn zerfetzt. Der bohrte/zwei Zehen seines schmutzigen linken Fußes/ins Innere ihres kleinen weißen Ohrs./…«106 Das Buch mit dem Anspruch, »die Banalität der menschlichen Existenz und ihres körperlichen Verfalls« zu untersuchen, ging mit seiner neuartigen, direkten Sprache gleich in den Kanon des literarischen Expressionismus ein. Der folgende Band, Söhne, war der jüdischen Dichterin Else Lasker-Schüler gewidmet, mit der Benn ein Liebesverhältnis hatte.
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