Kultur unterm Hakenkreuz. Michael Kater. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Kater
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Историческая литература
Год издания: 0
isbn: 9783806242027
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      Manche flohen in den Suizid. Der 1880 geborene Maler Ernst Ludwig Kirchner, zunächst beeinflusst von Kandinsky und französischen Neo-Impressionisten, hatte 1905 zusammen mit Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff die Dresdner Künstlervereinigung Die Brücke gegründet. Das Jahr 1911 verbrachte er in Berlin; Straßen- sowie Zirkus- und Variétészenen bestimmten nun seine Bilder. Durch die Gesellschaft, in der er sich befand – hauptsächlich Prostituierte –, geriet er an Morphium und trank schließlich einen Liter Absinth am Tag. Er meldete sich als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg und erlitt einen Nervenzusammenbruch. Bis 1917 hielt er sich in einem Sanatorium in Davos auf und blieb anschließend in der Schweiz. Aber der Hauptabsatzmarkt für seine Bilder war nach wie vor Deutschland, und Kirchner betrachtete sich selbst als deutschen Patrioten. Dass die Nationalsozialisten seine Kunst bei ihrem Machtantritt als »entartet« ablehnten, verwirrte und ärgerte ihn. Doch auch seine Bilder hingen im Juli 1937 in der NS-Ausstellung »Entartete Kunst«, und aus der Preußischen Akademie der Künste wurde er ausgeschlossen. Kirchner verzweifelte an seinen Süchten, der Abwertung seiner Bilder und der politischen Stimmung in Deutschland nach dem »Anschluss« Österreichs. Im Juni 1938 erschoss er sich in der Nähe seines Hauses bei Davos.33

      Ungeachtet ihrer politischen Haltung galten Kirchner und seine künstlerisch ebenso modernistischen Gefährten den meisten NS-Politikern seit dem Januar 1933 als Verfechter einer Kultur, die ausgelöscht werden musste. Entschiedener noch als in der ausgehenden Weimarer Republik setzten diese Politiker die kulturellen Strömungen der Moderne, die im Gefolge des Ersten Weltkriegs hervorgebrochen waren, in Beziehung zur deutschen Niederlage, zur vermeintlichen Vorherrschaft von Juden als Künstlern oder Kulturmanagern, zu linker und anarchistischer Politik und einer ästhetischen Verzerrung von Form und Inhalt. »Verdrehte« Sexualität, abweichendes Verhalten, Atonalität, »Nigger-Jazz«, unanständige Tanzstile, Zuhälter und Huren, Bilder von Krüppeln und Bettlern – für die NS-Kritiker waren all das Phänomene einer »Asphaltkultur«.

      Was als Dada, Kubismus, Expressionismus oder L’art pour l’art bezeichnet wurde, galt ihnen als wertloses Treibgut der Großstadt, ohne organische Verbindung zur Sittlichkeit des Landes. Die Kultur sei in Deutschland in den Bann fremdländischer Einflüsse geraten und dadurch »undeutsch« geworden. Das Individuum zähle mehr als die Gemeinschaft, verstanden als eine nationale Gemeinschaft, die sich durch die »Blutsreinheit« ihrer Mitglieder auszeichne. »Kranke und Irre gehören nicht auf eine Bühne«, wetterte Propagandaminister Goebbels. Der Expressionismus müsse bekämpft werden, weil er, so der Kunstrezensent Karl Hans Bühner, »das Schrille, das Unharmonische und das Kranke« anziehe.34

      Viele »Maßnahmen« gegen Kunst und Künstler wurden gerade in der Frühzeit des Regimes spontan von paramilitärischen Gruppierungen wie der SA, der SS oder der Veteranenorganisation Stahlhelm ergriffen, die auf die Rückendeckung der neuen Herrscher zählen konnten. Andere Maßnahmen wiederum beruhten auf Gesetzen wie etwa der Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar und dem Ermächtigungsgesetz vom 23. März 1933. Beide hatten ihre Grundlage in der Notverordnung (Artikel 48) der Weimarer Verfassung, die noch nicht außer Kraft gesetzt war.35 Auch wurden Sondergesetze die Kultur betreffend erlassen, darunter das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933, das die freie Tätigkeit von Redakteuren aufs Äußerste einschränkte und die Gleichschaltung der Presse beförderte.36 Aber als flexibelstes und regelrechtes Totschlaginstrument in der Hand der neuen Zensoren erwies sich das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das am 7. April 1933 verkündet wurde. Paragraf 4 sah vor, dass Personen von zweifelhafter politischer Überzeugung, die nicht rückhaltlos den neuen Staat unterstützten, aus dem Dienst entlassen werden konnten und nur noch drei Monate lang Anspruch auf ihre Bezüge hatten. Paragraf 3 nahm auf dieselbe Weise Juden ins Visier, während laut Paragraf 2 Beamte, die nicht über die entsprechende Vorbildung oder Eignung verfügten, zu entlassen seien.37 Das Gesetz verfolgte den Zweck, Beamte und Beschäftigte im öffentlichen Dienst ohne Rücksicht auf deren hergebrachte Ansprüche auf lebenslange Anstellung bzw. Pensionsbezüge auszuschalten. Es war daher höchst geeignet, um »verdächtige« Künstler aus öffentlichen Einrichtungen zu drängen, sei es auf städtischer, regionaler oder nationaler Ebene – das galt etwa für Opernsänger, die an der Preußischen Staatsoper in Berlin arbeiteten, ebenso wie für Schauspieler an Stadttheatern in Hamburg und Düsseldorf. Doch das Gesetz zielte nicht nur auf den öffentlichen Dienst; es ließ sich auch gegen Vereinigungen wie Lehrerverbände oder Ärztebünde in Anschlag bringen. Im Kultursektor konnte sich letztlich jede NS-Gruppierung mit modernefeindlichen Einstellungen dieses Gesetzes bedienen, um unliebsame Kollegen loszuwerden.

      Der Ausschluss aus der Preußischen Akademie der Künste in Berlin, einem Symbol des Weimarer Kulturlebens, sollte die Betroffenen außerdem in den Augen aller anderen Mitglieder, gleich welcher Kunstgattung, diskreditieren. Ein frühes Opfer war Heinrich Mann, der Präsident der Sektion Dichtkunst. Ihn setzte Akademiepräsident Max von Schillings am 15. Februar 1933 vor die Tür.38 Der Komponist Arnold Schönberg, ein Kollege Max von Schillings’, der seit 1925 an der Akademie gelehrt hatte, wurde im März ausgeschlossen, nachdem von Schillings erklärt hatte, der »jüdische Einfluss« in der Akademie müsse beseitigt werden. Er floh mit Frau und Kind nach Frankreich und kam am 17. Mai in Paris an.39 Ebenfalls im Mai erklärte Max Liebermann, Ehrenpräsident der Akademie und Jude, seinen Rücktritt und sein gänzliches Ausscheiden aus der Akademie. In einem von der Presse veröffentlichten Schreiben begründete Deutschlands bedeutendster Impressionist seinen Schritt so: Er habe sein ganzes Leben der deutschen Kunst gewidmet, und Kunst habe »weder mit Politik noch mit Abstammung etwas zu tun«.40 In den folgenden Monaten und Jahren wurden jüdische, linke oder ausgesprochen modernistische Künstler entweder direkt entlassen oder, wie der Bildhauer Ernst Barlach, unter Druck gesetzt, »freiwillig« zurückzutreten.41 Protest kam nur von der hochgeschätzten Schriftstellerin Ricarda Huch, die zwar politisch eher rechts der Mitte stand, aber für Toleranz eintrat. Sie ließ von Schillings wissen, dass sie »verschiedene der inzwischen von der neuen Regierung vorgenommenen Handlungen« ablehne, darunter die Aufforderung an die Akademiemitglieder, eine Loyalitätserklärung gegenüber dem Regime zu unterzeichnen. Ricarda Huch ging richtig davon aus, dass ihr Protest den sofortigen Bruch mit der Akademie zur Folge haben würde. Sie zog sich ins Privatleben zurück.42

      Wenden wir uns nun den einzelnen Kunstgattungen zu. Allein die deutschen Bühnen – ohne Berücksichtigung der Filmindustrie – verloren in den ersten Monaten der NS-Herrschaft zehn Prozent ihres Vorkriegspersonals und ein Drittel der Intendanten, von denen viele Juden waren. In München wurde der umtriebige Intendant Otto Falckenberg, der Stücke von Brecht und anderen modernen Autoren aufgeführt hatte, von der Geheimpolizei inhaftiert, nach kurzer Zeit aber wieder freigelassen.43 Falckenberg hatte gerade jene Genres in den Mittelpunkt gerückt, die jetzt tabu waren: den Naturalismus der Jahrhundertwende und anschließend den Expressionismus, der noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs seinen Anfang genommen hatte. Die naturalistischen und expressionistischen Dramen setzten sich mit der Psychologie von Individuen in ihren zwischenmenschlichen, oftmals konfliktreichen Beziehungen auseinander, während die Nationalsozialisten eine in »rassisch« bestimmten Gemeinschaften positiv-dynamisch verlaufende Handlung bevorzugten. Zu den naturalistischen Autoren, deren Werke während der Weimarer Republik fast die Hälfte des Repertoires ausgemacht hatten und jetzt offiziell verbannt wurden, gehörten Hermann Sudermann, Arthur Schnitzler, Frank Wedekind, Walter Hasenclever, Ernst Toller und Carl Zuckmayer.44 Georg Kaiser, der produktivste expressionistische Dramatiker der zwanziger Jahre, brachte sein neuestes Stück Der Silbersee, ein quasi-sozialistisches Lehrstück, Ende Februar 1933 gleichzeitig an drei Theatern – in Magdeburg, Leipzig und Erfurt – zur Premiere. Die Musik stammte von Kurt Weill. In Magdeburg spielte der Kommunist Ernst Busch die Hauptrolle. Der Stahlhelm und NSDAP-Funktionäre erklärten die Aufführung für verboten und erwirkten die vorzeitige Absetzung des Stücks. Ähnliches geschah in Erfurt und in Leipzig, wo der jüdische Komponist Gustav Brecher die Aufführung musikalisch leitete. Brecher musste später fliehen und nahm sich 1940 im belgischen Ostende das Leben.45

      Viele deutsche Bühnenschauspieler waren auch im Film tätig, wo ebenso Verbote ausgesprochen wurden. Wer in einschlägigen Filmen der Weimarer Zeit gespielt hatte, verlor seine Stellung, so wie die vormals beliebte Hertha Thiele, die in dem linken, expressionistischen Klassiker Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? von 1932 mitgewirkt hatte. Mitautor des Drehbuches war