Zum anderen gab es den Film Hitlerjunge Quex, vielleicht der nationalsozialistischste Film überhaupt. Er feierte den Märtyrertod von Herbert Norkus, der im Januar 1932 von kommunistischen Jugendlichen umgebracht worden war. Ironischerweise zeigte er sich Filmen aus der Weimarer Zeit verpflichtet. Ein aufmerksamer Beobachter musste vor allem Anklänge an Kuhle Wampe (1932), Die Dreigroschenoper (1931) und Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) bemerken.150 Alle spektakulären Stücke – insbesondere die vom NS geförderten Thingspiele –, die zwischen 1933 und 1936 ihre Blütezeit erlebten, wiesen Ähnlichkeiten mit expressionistischen Bühnenwerken und den Arbeiterdramen auf, ein Faktor, der später zu ihrem Niedergang beitrug.151
1937 sorgte Hitler höchstpersönlich für einen grundlegenden Wandel in der deutschen Kunstwelt. Aber das Gebäude, in dem er diesen Wandel verkündete, das neue, monumentale, neo-klassizistische Haus der Deutschen Kunst in München, hatte ein Flachdach und war von schlichter, funktionaler Bauweise, die Beobachter an das Bauhaus erinnerte. Die Historikerin Barbara Miller Lane bemerkt: »Das massiv Blockförmige und die glatten Oberflächen, die frei sind von allen Verzierungen mit Ausnahme minimaler Vorsprünge an Basis und Gesims sowie die horizontale Ausrichtung des Gebäudes künden von den Anleihen bei den Radikalen der zwanziger Jahre.« Und in der von Hitler nach der Rede eröffneten Großen Deutschen Kunstausstellung fanden sich objets d’art, die von eben jenem modernen Stil beeinflusst waren, den Hitler jetzt verächtlich machte.152 Ebenfalls 1937 führte der Regisseur Jürgen Fehling (nach NS-Terminologie ein »Vierteljude«) im Preußischen Staatstheater in Berlin Shakespeares Richard III. auf. Fehling, der Barlach bewunderte und selbst durch die Schule des Expressionismus gegangen war, wies Werner Krauß, der den Tyrannen spielte, an, sich dem Charakter Joseph Goebbels’ anzuverwandeln – düster, bedrohlich ruhig und mit Hinkefuß. Das Bühnenbild war karg und gleichfalls düster, mit kaum mehr ausgestattet als mit den an das Bauhaus erinnernden Sitzmöbeln aus Stahlrohr.153 Fehling wagte einen Drahtseilakt, blieb aber unbehelligt.
»Entartete« Kunst und Musik werden ausgestellt
In der Ausstellung »Entartete Kunst«, die am 19. Juli 1937 in München eröffnet wurde, war Emil Nolde mit mehr als 50 Arbeiten vertreten, Ernst Ludwig Kirchner mit 32, nachdem bereits mehr als 600 seiner Gemälde aus öffentlichen Museen entfernt und beschlagnahmt worden waren. Von Barlach waren die Bronzeplastik Die Wiedervereinigung und das verbotene Buch mit Zeichnungen zu sehen, ausgestellt in einem Glaskasten mit anderen verbotenen Objekten und etikettiert als »Kulturschänder«. Barlach beschwerte sich darüber, dass aus dem Buch einige Seiten herausgeschnitten und separat zur Schau gestellt worden waren – das hielt er für unfair, weil sie nicht das ganze Buch repräsentierten.154
Die treibende Kraft hinter dieser Ausstellung war Joseph Goebbels, der schon seit einiger Zeit hatte erkennen müssen, dass Rosenberg mit seinen erzreaktionären, modernefeindlichen Ideen ihn in Hitlers Anwesenheit ausstach. Was die Kunst anbetraf, stimmte Hitler mit Rosenbergs Vorstellungen überein, auch wenn er dessen pompöses Gehabe verachtet haben mochte. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, musste Goebbels zumindest den Eindruck erwecken, diesen kulturpolitischen Kurs mitzumachen, während er zugleich seine eigenen, viel wirksameren administrativen Instrumente in Stellung brachte. So riss er in der ersten Hälfte des Jahres 1937 die Initiative wieder an sich und ließ sich von Hitler dazu autorisieren, eine Ausstellung mit »entarteter Kunst« auf den Weg zu bringen. Vorbilder waren die früheren Schandschauen in Karlsruhe, Stuttgart und Nürnberg. Goebbels sah in dem Projekt ein geeignetes politisches Manöver, um Rosenberg kaltzustellen. Am 30. Juni gab er Adolf Ziegler, dem Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste in der – sicher beim Propagandaministerium angesiedelten – RKK, den Auftrag, entsprechende Objekte zusammenzustellen.155
In seiner Eröffnungsrede zur Ausstellung bekannte Ziegler, dass das eine Mammutaufgabe gewesen sei, weil er dazu »fast sämtliche deutsche Museen« habe besuchen müssen.156 Zur Unterstützung hatte er eine aus fünf Mitgliedern bestehende Kommission gebildet, der außer ihm selbst unter anderen der ehrgeizige Graf Baudissin vom Essener Folkwang-Museum und der Kunstpolitiker Wolfgang Willrich angehörten. Letzterer hatte mit Säuberung des deutschen Kunsttempels gerade erst eine giftige Hetzschrift verfasst. Angeblich in Hitlers Auftrag wollte die Kommission Werke beschlagnahmen, die nach 1910 entstanden waren – dem Jahr, in welchem Kandinsky das erste abstrakte Gemälde überhaupt ausgestellt und Herwarth Walden die Maßstäbe setzende expressionistische Zeitschrift Der Sturm gegründet hatte.157 Die hauptsächlich betroffenen Museen standen in Frankfurt, Dresden, Düsseldorf und Berlin. (Bernhard Rust, der rechtlich zuständige Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, gab nur zögernd seine Zustimmung.) Die Kommission konfiszierte etwa 5000 Gemälde und 12 000 Drucke; schließlich wurden rund 500 Kunstwerke von insgesamt 112 missliebigen Künstlern für die Ausstellung ausgewählt. Die Werke fielen, grob gesprochen, unter die Stilrichtungen Expressionismus, Verismus und Dadaismus – die Hauptströmungen der Moderne, die sich durchaus überschneiden konnten. Legendäre Kunstbewegungen wie Die Brücke und Der blaue Reiter waren betroffen, führende deutsche Künstler wie Kirchner, Pechstein und Beckmann die unmittelbaren Opfer. Aber Ziegler richtete sein Augenmerk auch auf die Werke ausländischer Maler wie Picasso, Matisse, Munch und Chagall, um deren Renommee ebenfalls in den Schmutz zu ziehen.158
Nachdem Hitler und Goebbels drei Tage zuvor die Objekte begutachtet hatten, wurde die Ausstellung am Montag, dem 19. Juli 1937, im Münchner Archäologischen Institut eröffnet. Die gesamte deutsche Presse, auch die ehemals bürgerlichen Blätter, die nun den Propaganda-Richtlinien vom November 1936 unterlagen, schäumte vor Entsetzen. »Eisenbahnzüge voll Schmutz« hätten sich in die Museumsräume ergossen, schrieb die einst ehrenwerte Deutsche Allgemeine Zeitung; »Magazine und Keller haben sich geöffnet, um ihren Unrat auszuspeien«, ließ der Münsterische Anzeiger in schrillem Ton verlauten.159 Das NS-Organ National-Zeitung aus Essen, Graf Baudissins Hochburg, gab ironischerweise unwillentlich die ursprünglichen Intentionen der Expressionisten wieder, als es konstatierte, dass deren Bilder den Betrachter »durch ihre Farben buchstäblich anschreien und durch die Verzerrung der Linien, durch die Dekadenz des Ausdrucks uns mit Schrecken erfüllen«.160 Die Organisatoren hatten ihr Bestes getan, um die Gemälde auf möglichst unvorteilhafte Weise zu präsentieren, indem sie sie schief und zu dicht, teilweise bis auf den Boden herab hängten, in roh zusammengezimmerten Holzrahmen161 – und »in schlechtem Licht«, wie Nolde festhielt. »Grelle, rote Zettel mit boshaften Sprüchen« hätten überall herumgehangen.162 Perfiderweise war hier und da der Preis angegeben, den eine öffentliche Institution für den Ankauf – aus Steuermitteln – ausgegeben hatte: Abertausende an Mark, was die Betrachter schockieren sollte. Ungesagt blieb dabei, dass es sich um Beträge aus der Inflationszeit handelte, als man mit 10 000 (Papier-)Mark nicht einmal einen Laib Brot kaufen konnte.163
Auf jeden Fall war die Ausstellung populär.164 Bevor sie auf Tour ging, hatten über zwei Millionen Männer und Frauen – Minderjährigen war der Zutritt verboten – überwiegend zustimmend die »Entartete Kunst« besucht. Der Eintritt war frei.165 Eigentlich sollte sie bis Ende September dauern, wurde dann aber bis Ende November verlängert.166 Die Wirkung dieser entwürdigenden Zurschaustellung auf die betroffenen Künstler war natürlich verheerend, auch wenn einige, etwa die Erben des Bildhauers Wilhelm Lehmbruck, die Exponate nach einiger Zeit zurückerhielten.167 Karl Hofer indes trauerte noch Ende 1943 sechzig Gemälden allein aus seinem Berliner Atelier nach.168
Als die Ausstellung auf Deutschlandreise ging, wurde ihr zur Einführung eine vom Propagandamuseum autorisierte Broschüre beigegeben. Ein gewisser Fritz Kaiser aus München169 erläuterte darin die Kriterien, nach denen die Exponate zu »Gruppen« zusammengestellt worden waren. Die erste Gruppe stand unter dem Motto Form und Farbe – zentrale Thematiken der expressionistischen Kunst. Hier monierte Kaiser die »absolute Dummheit der Stoffwahl« und die »bewusste Verachtung aller handwerklichen Grundlagen«.170 In der zweiten Gruppe hielt Kaiser Künstlern wie Nolde und Barlach vor, sie hätten religiöse Gefühle verletzt – angesichts des Umstands, dass der totalitäre Staat im gleichen Zeitraum beide christlichen Kirchen bekämpfte, ein lächerliches Argument.171 Mit der dritten