Anna war gerührt. Nichts wollte sie lieber, als in diesem Haus der Toleranz und Nächstenliebe Oberste unter Gleichen zu werden und vielleicht sogar irgendwann Gastgeberin zu sein für den Meister selbst.
»Sollte er mich danach fragen, wird es für mich nur eine Antwort geben: Ja, ich will es, aus ganzem Herzen!«
Jacobus stand auf, streichelte Anna über die blonden Haare und küsste sie väterlich auf die Stirn.
6
Bologna, Osterfest 155811
Es war sein erstes Osterfest in der Fremde. Er wusste, dass es die richtige Straße war, die er eingeschlagen hatte. Noch war er einer unter Hunderten. Doch der heutige Tag würde vieles verändern. Die Welle der Begeisterung, die die Dominikanische Mönchsgemeinschaft erfasst hatte, würde auch ihn nach oben tragen. Sein Freund und Vorbild Michele Ghislieri war zum neuen Großinquisitor ernannt worden.
Nach dem feierlichen Gottesdienst wurde die Urkunde Papst Pauls IV. vorgelesen. Barfuß und mit dem einfachen Mönchsgewand bekleidet stieg Michele die Stufen in den Altarraum hinauf, um die Schrift demütig aus der Hand des päpstlichen Nuntius zu erhalten. Er, der Kardinal, dem es gestattet gewesen wäre, zu diesem feierlichen Anlass in prunkvollem Rot mit Stab, Mitra und Cappa magna zu erscheinen, empfing die Macht über das Heilige Offizium als einfacher Diener; fast wie ein Büßer stand er da und verbeugte sich. Aber schon bei seiner Ansprache ließ er die versammelte Gemeinschaft nicht im Zweifel, nach welchen Kriterien er sein Amt führen wollte. »Nichts ist grausamer als Mitleid mit den Gottlosen!«, rief er in die Menge. »Wir werden mit unbeugsamer Härte Gotteslästerung, Ehebruch und Ketzerei bekämpfen. Unzucht, Okkultismus und Zauberei sind Kapitalverbrechen, die mit dem Beil oder dem Scheiterhaufen zu sühnen sind. Die unheilvolle Reformation des Wittenberger Ketzers werden wir mit eiserner Faust bekämpfen.«
Er wusste, wovon sein Freund Michele sprach, war er doch einer der wenigen, der in den deutschen Landen das Beben am eigenen Leib gespürt hatte, das die lutherischen Horden ausgelöst hatten.
Nichts ist grausamer als Mitleid mit den Gottlosen. Dieser Satz hatte sich ihm eingeprägt und er wiederholte ihn immer und immer wieder.
1110. April
7
Leeder, Juni 1558
Anna strahlte, und mit ihr die Junisonne, als sie und Emanuel das Schloss verließen, in dem sie kurz zuvor der Amtsschreiber zu Mann und Frau erklärt hatte. Emanuel war der Richtige für sie, davon war sie überzeugt. Er stand mit beiden Beinen fest auf dem Boden, leitete umsichtig das Gut und würde sicher ein herzensguter Vater werden. Wie schnell hatte doch das Schicksal, über alle Standesdünkel hinweg, ihr trauriges Dasein beim alten Blärsch beendet und sie zur Frau eines wohlhabenden Gutsbesitzers gemacht.
Eine dicke Menschentraube wartete auf die beiden frisch Vermählten, war es doch Brauch, dass bei einer Hochzeit im Schloss für alle Dorfbewohner süßes Gebäck verteilt wurde. Anna dachte nur daran, hinaus nach Schäfmoos zu kommen, um ihren Bund vom Meister segnen zu lassen. Der festlich geschmückte Wagen wartete bereits auf sie und unter begeisterten Vivat-Rufen fuhren sie in Richtung Aschthal.
Das junge Paar hatte den Ort längst verlassen, als der Kutscher Karl plötzlich die Pferde mit einem lauten »Hooo, Buaba« anhielt und die beiden unfreiwillig gegeneinanderprallten.
»Ist etwas passiert, Karl?«, fragte Emanuel.
Anna sah ein kleines, dunkel gekleidetes Wesen mitten auf dem Weg stehen. Sie schob Emanuel zur Tür der Kutsche. »Ich glaube, du solltest nach dem Rechten schauen.«
Er folgte ihrer Aufforderung und stieg ins Freie. Anna kannte die Frau nicht, aber das verrunzelte Gesicht mit den stechend und unerschrocken blickenden schwarzen Knopfaugen prägte sich ihr ein.
»I hao miassa bremsa, sonscht wär se mir unter d’Räder komma«, stammelte der Kutscher Karl entschuldigend.
Anna hörte, wie Emanuel mit der Alten redete: »Was ist dein Begehr?«, fragte er die Frau höflich.
»I hao an Briaf für de Hoachzeitar«, antwortete sie mit krächzender Stimme und reichte ihm ein Stück Papier. »Es standet it so scheane Sacha dinna«, schob sie mit einem bösartigen Lächeln hinterher. »Mei, es gibt halt Leit, wo uib Rehlinger am liabschta zum Deifl schicka däded.«
Anna überlegte, wer ihnen wohl diese Nachricht zukommen lassen wollte und was die Alte damit meinte, dass es Leute gab, die die Rehlinger zum Teufel schicken wollten. Emanuel nahm das Papier, griff in die Tasche und gab ihr ein Geldstück.
»Du hast sicher nur deine Pflicht getan, vergelt’s Gott«, entgegnete er der verdutzten Alten, die sich artig bedankte und das Weite suchte.
»Du hast ihr Geld gegeben? Jetzt komm, mach es schon auf«, rief Anna ihrem Mann von der Kutsche aus zu.
Emanuel setzte sich wieder zu ihr und gab Karl das Zeichen zum Weiterfahren. »Lass uns doch warten, bis wir wieder zu Hause sind; der Brief deutet auf nichts Gutes, und Caspar soll uns in fröhlicher Stimmung wiedersehen!«
Widerwillig gab Anna nach und konnte nicht verhindern, dass ihr Mann den Brief ungelesen in die Tasche steckte.
Als sie Aschthal verlassen hatten und bergauf in den Wald einbogen, hielt der Kutscher abermals mit einem »Brrrrr« das Gespann an. Ein dicker Baumstamm lag quer über dem Weg.
»Dean hot ebbar umg’säged. Mir könnt grad meah umdrehe!«, vermeldete Karl aufgeregt.
»Müssen wir wirklich umdrehen? Kennst du keinen anderen Weg nach Schäfmoos?«, fragte Emanuel, und Anna spürte, wie sie mit einem Mal traurig wurde.
»Es gibt bloßig den oine.« Karl ließ die Pferde rückwärtsgehen und bemühte sich, das Gespann zu wenden.
»Ich kann mir vorstellen, wer dahintersteckt! Wir lassen uns nicht von diesen Leuten den Tag verderben, Anna. Ich werde einen Holzmacher heraufschicken und morgen ist der Weg wieder frei. Caspar wird wohl noch ein paar Tage hier bleiben.«
Anna nickte nur und versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen; niemand konnte ermessen, was ihr dieser Besuch beim Meister bedeutet hätte.
8
Bologna, fünf Tage nach Maria nascita12 1560
Die Beine ausstrecken und ohne einen Präfekten im Nacken träge in der Sonne liegen, was gab es Schöneres. Auch wenn das Geratter auf den holprigen Wegen ihn kräftig durchrüttelte, hatte Otto die letzte Stunde zwischen Kisten und Säcken friedlich geruht. Der Duft von Kräutern und Früchten und das noch berauschendere Gefühl der Freiheit hatten ihm einen wohligen Halbschlaf beschert. Alles Mögliche war ihm durch den Kopf gegangen: sein Vater in Gestalt des mahnenden Onkels, Dompropst zu Speyer, der ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit als leuchtendes Vorbild vorgehalten wurde, der Stolz, mit schmerzenden Beinen auf der Passhöhe des heiligen Bernhard angekommen zu sein, die staubigen Straßen und freundliche Menschen. Die gefürchtete Glocke, die ihn im Domkonvikt zu Augsburg als einen der Ersten ins Chorgestühl gerufen hatte, hörte er ganz schwach im Hintergrund. Er drehte sich noch einmal um. Während er weiterdöste, vermischten sich in seinen Gedanken die Abschiedsrufe seiner acht Geschwister mit Späßen der Schweizergardisten, denen er sich angeschlossen hatte und die er bereits in Rom wähnte.
»Stronzo, sei in ritardo!13«, dröhnte es an seinem Ohr und Otto schreckte augenblicklich auf. »…ardo, ardo, ardo.« Ein Wald von roten Säulen tanzte um ihn. Otto war klar, dass das kein Kosewort gewesen war, als sich langsam Arkadengänge um eine wunderschöne Piazza ordneten und ein Marktweib, die Arme in die breiten Hüften