»Wir haben zwei Zimmer hergerichtet. Mein Sohn Emanuel wird euch hinaufgeleiten. Es wird uns eine Freude sein, heute Abend gemeinsam mit euch zu speisen.«
Anna empfand es als wohltuend, in welch ruhigem Ton in diesem Haus miteinander gesprochen wurde, selbst den Bediensteten begegnete man respektvoll. Es ermutigte sie, eine Frage zu stellen: »Ist denn der Meister auch im Haus?«
»Caspar ist vor einigen Tagen unerwartet abgereist«, antwortete Emanuel. »Er wohnt meist nur ein paar Tage im Schloss und flüchtet sich anschließend auf einen der Höfe, wo er in Ruhe und Frieden seinen Studien nachgehen kann.«
Anna bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen.
In ein Gespräch mit Jacobus versunken, war Georg unten zurückgeblieben, während Emanuel sie in ihr Zimmer brachte. Sie hatte Georg verloren, war ihm unwichtig geworden, das spürte sie nur zu deutlich. Sie versuchte, auf andere Gedanken zu kommen, doch selbst die Teppiche, Bilder und bemalten Teller, die überall an den Wänden hingen, konnten ihre Stimmung nicht verbessern. Schließlich fasste sie sich ein Herz. »Hast du den Meister schon oft gesehen?«, fragte sie Emanuel, als er vor einer Tür stehen blieb, die mit prächtigen Schnitzereien verziert war.
»Er war wie ein Familienmitglied. Seine Besuche wurden in letzter Zeit zwar seltener, aber als Kind habe ich oft auf seinem Schoß gesessen.«
»Darum beneide ich dich, Emanuel.«
Er öffnete die Tür, um ihr das Zimmer zu zeigen. Dabei sah sie ihm aus nächster Nähe in seine warmen hellbraunen Augen. Emanuel drehte sich rasch um und verabschiedete sich.
Anna warf ihre Sachen auf das Bett, zog die Vorhänge zurück, öffnete das Fenster und blickte auf die schneebedeckten Berge in der Ferne. Auch wenn es ihr noch nicht vergönnt war, den Meister zu treffen, spürte sie in diesem Haus seinen Geist, eine tiefgründige Menschlichkeit und den Respekt untereinander. Auf dem Gut der Rehlinger herrschten kein Misstrauen, kein Hass und kein Befehlston, wie sie es jahrelang beim alten Blärsch erfahren hatte. Sie atmete tief durch. Diese Menschen waren Freunde. Sie wollte alles dafür tun, um hier ein Zuhause zu finden.
4
Eichstätt, Maria Immaculata9 1557
Kerzenschein flackerte über ihr weißes Gesicht und es schien ihm, als habe sich ihr roter Mund bewegt.
»Dein mildes Lächeln wird mir sehr fehlen.« Ungewollt war ihm ein tiefer Seufzer entglitten und sein warmer Atem vernebelte für einen Augenblick die Sicht in der eiskalten Kirche. Er konnte sicher sein, dass es keinen Mithörer gab, weil nach der Matutin alle wieder in ihren Zellen waren, um die wenigen Stunden Schlaf bis zur Morgenhore zu nutzen. Eigentlich hatte er gelernt, seine Gefühle zu unterdrücken. »Nur der Schwächling zeigt Gefühle«, waren die mahnenden Worte seines Novizenmeisters. Dennoch fiel ihm der Abschied schwerer, als er es sich vorgestellt hatte. Er würde dieses Bild der Madonna mit dem Kind vermissen. Fast vierundzwanzig Jahre hatte er beinahe täglich davor gekniet und gebetet. Sie war jederzeit für ihn da, wandte ihren Blick niemals von ihm ab, hatte ihn getröstet und ihm Kraft gespendet, diese Hure, seine treulose Mutter, zu vergessen. Die Madonna beschützte liebevoll ihren Sohn, der sein Köpfchen eng an ihre Wange schmiegte, das erhabene Rot ihres Kleides, die sie umgebenden Strahlen und die in allen Farben glitzernde Krone zeigten ihre Macht. Unter ihrem Schutz fühlte er sich geborgen, sie war die Himmelskönigin, der er sein Leben anvertrauen wollte; sie würde ihn nicht enttäuschen.
Auch die Klostermauern würden ihm fehlen, hatten sie ihm doch von klein auf Geborgenheit und Schutz bedeutet. Hier war er zu Hause, das Kloster war ihm Familie, Quell des Wissens, Ort der Kontemplation und Zuflucht vor weltlichen Begierden. Alles hatte er überstanden. Selbst das unkeusche Drängen im Dormitorium. Jahrelang musste er mit ansehen, wie dort mit Mund und Hand Unzucht getrieben wurde. Er hatte die Versuchungen an sich abprallen lassen.
»Nur eiserne Härte gegen dich selbst lässt dich stark gegen andere werden«, war ein weiterer Leitspruch des Novizenmeisters. Diesen Kampf hatte er gewonnen durch Fasten, Disziplin und den Nagelgürtel.
Draußen hatte die Welt sich verändert. Die Protestanten ließen nicht nach, sich mit Verleumdung und Hetze gegen seine Kirche und den Papst hervorzutun. Die Nachrichten, die das Kloster erreichten, waren beunruhigend, es verging kein Tag, an dem sie sich nicht mit Häresie und Ketzerei hatten auseinandersetzen müssen. Die Mutter Kirche war in großer Bedrängnis. In dieser schwierigen Zeit erging an den Orden der Ruf aus Rom. Der Papst rief nach ihnen, den Fähigsten und Besten, um seine Herde zu schützen.
»Deine Zeit ist gekommen. Strenge im Glauben, striktes rationales Denken, verbunden mit Gehorsam gegenüber der katholischen Kirche und den dominikanischen Prinzipien, zeichnen dich aus, mein Sohn.« So hatte sein Abt ihn gepriesen.
Er war bereit, sich in Italien zu einem derer machen zu lassen, die man ehrfürchtig Domini canes nannte, zu einem der »Hunde des Herrn«. Es machte ihn stolz und erhaben. Mit Freude und Dankbarkeit würde er dem Ruf folgen, aber da war das Unbekannte, das Neue, das Unberechenbare, das ihn unruhig machte. Nein, Angst war es nicht, vielmehr fühlte er eine Art Fieber in sich aufsteigen. Es war die fiebrige Erwartung, Witterung aufzunehmen und sich dem Bösen an die Fersen zu heften. Wie von selbst wischte das rote Taschentuch über seine feuchte Stirn.
»Fiat voluntas tua10, du wirst mich beschützen«, flüsterte er, berührte die Lippen der Gottesmutter mit seinen Fingern und verließ zum letzten Mal die Kapelle der Madonna.
9 8. Dezember
10 Dein Wille geschehe.
5
Leeder, Januar 1558
Fast ein Jahr war vergangen seit ihrer Ankunft in Pilgerhausen. Anna war richtiggehend aufgeblüht. Fast jeden Abend saß sie im Kreis der Leederer Schwenckfelder. Sie sangen und beteten, und Anna durfte die zahlreichen Bücher benutzen, die Jacobus während vieler Jahre zusammengetragen hatte. Emanuel war immer in ihrer Nähe. Sie redeten und diskutierten oft bis spät in die Nacht hinein und Anna hatte den Eindruck, dass er sie verehrte und bewunderte. Es entwickelte sich eine gegenseitige tiefe Zuneigung, von der Anna überzeugt war, dass daraus Liebe werden würde. Emanuels Blicke zeigten ihr mehr, als er mit Worten auszudrücken in der Lage schien.
Georg hingegen war allein in ein Haus unten im Dorf gezogen, um sich seinen Verteidigungsschriften zu widmen. Trotzdem war Anna glücklich. Georg blieb ihr ein guter Freund. Ihm hatte sie es zu verdanken, dass sie hier sein durfte, weg von den lüsternen Laffen und den besoffenen Säcken im »Raben«. Sie hätte sich auch als Bedienstete im Schloss verdingt, aber Jacobus Rehlinger hatte sie schon nach wenigen Tagen zur Seite genommen und ihr versichert: »Du bist eine von uns, Anna!«
Und als sie ihm eines Tages erklären wollte, dass sie ja keine Eltern hätte und deswegen ehr- und rechtlos sei, entgegnete Jacobus: »Hör auf, dir über Stand und Herkunft Gedanken zu machen! Wir Schwenckfelder machen keine Standesunterschiede, jeder Mensch ist ein Geschöpf des Allmächtigen und steht mit seinem Leben und Tun in eigener Verantwortung.«
»Wenn nur alle Menschen so denken würden wie du, Jacobus, dann gäbe es keinen Zwist und Streit untereinander«, hatte Anna erwidert.
An diesem kalten Winterabend saß Jacobus in seinem Sessel vor dem offenen Kamin und ließ sich von Anna vorlesen. Sie hatte ihm das vor einiger Zeit angeboten, als sie bemerkt hatte, dass seine Sehkraft langsam schlechter wurde. Nach einer Weile nahm er ihr das offene Buch weg, legte es zur Seite, ergriff ihre Hand und schaute ihr tief in die Augen.
»Lass mich dich unterbrechen, Anna. Emanuel hat mich gefragt, ob ich