»Was macht denn diese Agatha so besonders?«
»Sie hat sich von ihrem Vater ein ungeheures Wissen erworben, obwohl sie nie an einer Universität war, und sie ist ein Engel. Sie hilft den Leuten, die von weit her zu ihr kommen«, er senkte die Stimme zu einem Flüstern, »und lebt das Schwenckfeldertum. Bei ihr ist das Zentrum der Gemeinde. Agatha steht seit vielen Jahren mit Caspar in Verbindung, der selbst immer wieder in ihrem Haus Gast ist.« Inzwischen waren sie vor dem Haus in der Langen Gasse angekommen.
»Ich hoffe«, sagte Anna, »dass sie uns weiterhelfen kann.«
»In Gottes Namen, so lass es uns versuchen.« Georg klopfte mit dem schweren Eisenring an die Tür. Gleich darauf öffnete sich ein Fenster.
»Wach auf, mein Seel!«, rief er hinauf.
»Lobsinge seinen Namen«, klang es verschlafen von oben. »Wer klopft denn um diese Zeit noch an?«
»Gnade und Friede im Herrn, Schwester. Ich bin Georg Mayer, Agathen bin ich sehr wohl bekannt. Das ist Jungfer Anna Dorn aus Kempten, wir sind seit vier Tagen auf der Flucht und bitten für eine Nacht um Quartier.«
Anna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Stellt das Pferd hinten in den Stall, der Knecht wird es versorgen. Wartet dort, ich komme hinunter!«
Georg bedankte sich und führte das Pferd in den hinteren Teil des herrschaftlichen Hauses, wo durch einen Bretterverschlag Licht schimmerte.
»Ich bin dir so dankbar, Georg, dass du mich mitgenommen hast.« Anna band ihr Bündel von den Satteltaschen los, während Georg das Pferd dem Knecht übergab, der mit qualmender Pfeife aus seinem Verschlag getreten war. Die Frau, die sie an den Stallknecht verwiesen hatte, kam auf sie zu und bat sie ins Haus. Sie trug einfache Kleidung und war vermutlich die Magd.
»Die Herrschaft will am Abend nicht gestört werden und wird euch morgen früh empfangen. Ich habe euch etwas zu essen hergerichtet.«
Mit einer Laterne und zwei Holztellern voller Speck, Wurst und Brot begleitete die Magd sie in das oberste Stockwerk des Hauses, wo in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern Betten bereitstanden.
Georg verabschiedete sich mit einer heftigen, aber betont kurzen Umarmung von Anna. Für sie fühlte es sich an, als wolle er sie sich vom Hals halten, sie war allerdings zu erschöpft, um länger darüber zu grübeln. Ihr ganzer Körper schmerzte, mehr aber tat es ihr in der Seele weh. Sie hatte sich das Ende des heutigen Tages etwas anders vorgestellt. Sie hatte wenigstens einmal noch eine Nacht mit ihm verbringen wollen, dieses Gefühl des Verschmelzens ein zweites Mal erleben oder zumindest neben ihm einschlafen, dem Mann, den sie bewunderte und verehrte, der sie aus den Zwängen des Sklavendaseins befreit hatte und ihr eine neue Perspektive geben würde. Sie seufzte und wandte sich schließlich ihrem Essen zu. Kurz darauf fiel sie gesättigt ins Bett, dachte sehnsüchtig an Georg und inmitten dieser Gedanken fielen ihr die Augen zu.
»Der Friede sei mit euch, seid willkommen in meinem Haus, das allen unseren Brüdern und Schwestern, die guten Willens sind, offen steht. Georg, wie schön, dich wiederzusehen.« Agatha Streicher umarmte Georg und begrüßte Anna ebenso herzlich.
»Lasst uns in die gute Stube gehen. Susanna, ihr habt sie gestern bereits kennengelernt, hat euch die Milchsuppe hergerichtet.« Sie betraten das Kaminzimmer und setzten sich an den riesigen Eichentisch, der vielen Gästen Platz bot.
»Erzähl, wie geht es dir, und was verschafft mir die Ehre eures Besuchs?«, wandte die Hausherrin sich an Georg, nachdem Susanna heißen Tee eingeschenkt hatte.
»Du weißt, Agatha, dass ich vieles unter meinem Pseudonym für Caspar verfasst habe. Seit vier Tagen bin ich ohne Anstellung, weil mich der neue Abt in Kempten nicht mehr ertragen konnte. Jungfer Anna Dorn hat sich mir angeschlossen. Sie denkt und lebt in unserem Geiste und ist auf der Flucht vor einem skrupellosen Wirt, von dem sie ausgebeutet wurde. Wir hoffen, dass du uns Caspars Aufenthaltsort nennen kannst. Es ist unser gemeinsames Ziel, dem Meister nah zu sein.«
Anna lächelte Georg zu, hoffte aber vergebens auf einen Blick der Zuneigung.
»Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass der Meister sich bei den Augsburger Rehlingern in Pilgerhausen8 auf einem der Einödhöfe versteckt hält. Ich werde einen Brief an Jacobus verfassen und euren Besuch anmelden.« Anna dachte an ihre nach wie vor schmerzenden Knochen und sah Georg auffordernd an. Er hatte ihren Blick offenbar verstanden.
»Wir sind dir zu großem Dank verpflichtet, Agatha. Wenn du erlaubst, würden wir uns gerne einen weiteren Tag erholen, bevor wir die lange Reise antreten.«
Agatha Streicher lachte. »Bleibt, so lange es euch gefällt, und seht euch in Ulm ein wenig um, bevor ihr dort oben in den Wäldern mit Füchsen und Bären hausen werdet. Unsere Stadt hat einiges zu bieten.«
8 Von Schwenckfeldern verwendetes Synonym für Leeder.
3
Leeder, 24. März 1557
Sie waren noch mehr als eine Wegstunde von Pilgerhausen entfernt, als ihnen bereits der rote Backsteinturm am Horizont die Richtung wies. Sie konnten den Ort nicht verfehlen.
»Unauffälliger hätte sich Caspar gar nicht verstecken können. In einem Ort mit so einem riesigen Kirchturm vermutet niemand Protestanten, und erst recht keine Schwenckfelder.« Seit sie am Spöttinger Ballenhaus vorbeigekommen waren, ging Georg zu Fuß neben dem Pferd her, während Anna im Sattel saß.
»Ich kann mich ja um deinen Haushalt kümmern. Wenn du dort eine Stelle als Prediger und Schulmeister bekommst, wird dir bestimmt auch eine Wohnung zugestanden.« Anna hatte sich bisher nicht mit Georgs Zurückweisung abgefunden.
»Das schlag dir aus dem Kopf, Anna! Das Konkubinat ist kein Weg für uns beide. Nur der gemeinsame Glaube wird uns für immer verbinden. Auf so einem Gut gibt es zahllose Möglichkeiten, sich nützlich zu machen, und jemand, der wie du keine Arbeit scheut, findet sicherlich etwas. Jacobus Rehlinger ist ein reicher Kaufmann, der in Augsburg sein Bürgerrecht aufgegeben hat, um sich dort oben in Leeder unbehelligt den Schriften Caspars widmen zu können. Er leistet sich wahrscheinlich ein großzügiges Gesindehaus.«
Anna verbarg ihre Enttäuschung und schwieg. Am späten Nachmittag trafen sie endlich ein. Sie hatte ein ungutes Gefühl, als das mächtige Schloss unterhalb der Kirche auftauchte.
Anscheinend wurden sie erwartet.
»Wach auf, mein Seel!«, rief ihnen ein Mann in schwarzem Talar freudig entgegen.
»Lobsinge seinen Namen«, antworteten Georg und Anna gleichzeitig, bevor sie das Tor erreichten.
»Das muss Jacobus sein«, erklärte Georg.
»Der Friede des Herrn sei mit euch beiden und geleite euch auf allen Wegen. Seid herzlich willkommen in Leeder. Deine Schriften sind meine tägliche Lektüre, Agricola. Ich freue mich wie ein Kind, dich leibhaftig vor mir zu haben! Das ist mein Sohn Emanuel«, stellte er einen jungen Mann vor, der zu ihnen getreten war. »Wir wollten es uns nicht nehmen lassen, dich und deine Begleiterin persönlich hier zu begrüßen.«
»Agricola?« Anna sah Georg verwundert an.
»Ich werde dir alles erklären«, versuchte er, sie zu beschwichtigen, und mit einem Schlag wurde ihr deutlich, wie bekannt Georg bereits durch seine Verteidigungsschriften für Caspar geworden war, wenn auch unter falschem Namen. Georg war berühmt. Und in seinem Leben war kein Platz für sie.
»Das ist Anna Dorn, ebenfalls aus Kempten«, stellte Georg sie vor. »Sie hat sehr früh ihre Eltern verloren und ist meine gelehrigste Schülerin. Sie hat mich gebeten, sie mitzunehmen. Wir ersuchen untertänigst und um der Barmherzigkeit des Herrn willen, bei euch aufgenommen zu werden.«
»Die Streicherin hat mich bereits