»Studente teutonico, moglie, stai zitto!14« Otto sah einen schmutzigen Finger in seine Richtung deuten.
»Mea culpa, mea culpa«, haspelte Otto entschuldigend und kletterte vom Wagen. Ihm war klar, dass er der Grund des Streits sein musste.
»Ma scusa, sei benvenuto! Come ti chiami? Come sei magro!15«, rief Moglie und stand schon mit einem bissbereiten Apfel vor ihm. Fast hätte er den Mund geöffnet, nahm die Frucht aber nur und sagte: »Otto, per piacere.«
»Ma che bello ragazzino! Guardi gli occhi azzurri! Poverino, come sei sporco!16« Während Otto noch versuchte, vom lateinischen porcus abzuleiten, wischte bereits ihr nasser Schürzenzipfel durch sein Gesicht.
»Grazie, grazie, signora Moglie«, stammelte er verlegen, worauf die Bauersleute schallend lachten. Otto wunderte sich, denn er war sicher, den Namen richtig verstanden zu haben. Ohne lang zu zögern, half er, die Gemüsereste in die Kisten zu packen, und ließ sich auch von Ambrogio nicht davon abbringen. Beim Stapeln der Kohlköpfe konnte Otto den Vater mahnen hören, ein von Gemmingen habe sich nicht mit niederem Volk einzulassen. Und Otto hätte ihm mit Matthäus Kapitel fünfundzwanzig, Vers vierzig, widersprochen: Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt … Otto wusste, dass der neuerliche Standesdünkel in seinem Vater erst seit dem Notverkauf des Stammhauses in Mühlhausen gewachsen war.
»Mille grazie per … per guidarmi!« Otto bedankte sich artig, verabschiedete sich, und Moglie steckte ihm noch einige Pflaumen zu. Er ließ es geschehen, dass sie ihn zum Abschied an ihren üppigen Busen drückte, und winkte den beiden hinterher, bis das Fuhrwerk die Piazza verlassen hatte.
Einfache und liebe Menschen, dachte er und ließ den Blick über den Platz schweifen. Er wollte es sich nicht eingestehen, aber nun so mutterseelenallein zu stehen, machte ihn ein wenig mutlos. Er lehnte sich an einen der Arkadenbögen und beobachtete das Treiben auf der Piazza. Die Schönheit des Platzes schien sich in den Menschen widerzuspiegeln. Damen in prächtigen Gewändern, Reiter in blinkenden Uniformen und sogar die herumtollenden Kinder verbreiteten Fröhlichkeit und Anmut. Nur die Unzahl riesiger Türme, majestätischer als jeder Kirchturm daheim, erschienen ihm wie bedrohlich in den Himmel gereckte Zeigefinger. In Augsburg hätte niemand gewagt, einen Glockenturm an Höhe zu übertreffen, hier schienen sich die Gotteshäuser zu verstecken. Hatte die Kirche ihre Vormachtstellung an die Weltlichkeit abgegeben?
Otto schwankte zwischen Faszination und Beklommenheit. Er hatte sich so sehr gewünscht, in Bologna zu studieren, seinen Wissensdurst zu stillen, und jetzt kam er sich verloren vor. Aber mit Gottes Hilfe würde er auch das schaffen. Er wischte seine aufkommende Verzagtheit mit dem Argument hinweg, dass der Herr ihn bislang stets geleitet und beschützt hatte. Auf dem Weg über die Alpen, sechsundzwanzig Tage zu Fuß. Er hätte ein Pferd aus dem Stall des Vaters bekommen. Doch obwohl er gut reiten konnte und Pferde über alles liebte, hatte er verzichtet, weil er sehr wohl wusste, dass sein Vater sparsam sein musste. Die Zeiten, da man in adligen Kreisen den Namen von Gemmingen mit Ehrfurcht aussprach, waren längst vorbei.
Die Sonne hatte bereits den Wald der Türme erreicht. Im Schatten der Marmorfassade einer mächtigen Kirche, etwa hundert Fuß entfernt, beobachtete Otto einen Dominikaner, der Tauben fütterte. Wer die Tiere so liebt, dass sie ihm auf den Armen sitzen und ihm aus der Hand picken, muss ein vertrauenswürdiger Mensch sein. Otto beschloss, den Pater nach dem Weg zu fragen.
»Scusate, il convento di San Domenico?«, sprach er ihn an und zuckte kurz zusammen, als sich der Pater ruckartig umdrehte und Otto mit seinem Blick traf. Die Tauben flatterten ängstlich auf.
»Che fastidio! Avete perturbati le colombine!17«
»Verzeihung, ich wollte nur … Es tut mir leid«, fiel Otto in die deutsche Sprache zurück.
»Oh, Ihr kommt aus den deutschen Landen, Herr Studiosus«, sagte der Kirchenmann zu seiner Verwunderung auf Deutsch. »Willkommen in Bologna, der Stadt der Laster. Wegen der Tauben macht Euch keine Gedanken, sie kennen mich und kommen immer zurück, weil sie mir vertrauen.« Der Pater schenkte ihm ein mildes Lächeln und Otto war froh, nach langer Zeit wieder seine Sprache zu hören.
»Ihr habt Glück, ich lebe in San Domenico. Ihr könnt mir folgen. Ich bin Erminio vom Berg«, stellte der Geistliche sich vor.
»Johann Otto von Gemmingen.« Otto streckte ihm die Hand entgegen.
»Sieh an, ein von Gemmingen! Mitglied der deutschen Reichsritterschaft. Ihr gehört ja dann bestimmt nicht zu diesem verarmten Zweig, oder?«
Otto wusste, dass sein Vater ihm nur unter größten Anstrengungen das Kanonikat ermöglicht hatte. Er schluckte. Der Pater schien sich gut auszukennen.
»Und was werdet Ihr nach dem Trivium18 anstreben?«, bohrte der Geistliche weiter.
Endlich konnte Otto Kontra geben. »Ich bin seit zwei Jahren Kanoniker am Dom in Augsburg, soli Deo gloria.« Otto gestattete sich ein Lächeln.
»Oh, Herr Kanonikus! Da habe ich Euch ja ganz falsch eingeschätzt; da werdet Ihr ja eine geistliche Laufbahn einschlagen.«
Was so ein Titelchen doch ausmacht, dachte sich Otto.
»Ich habe Recht studiert und lebe seit einigen Jahren in Bologna«, fuhr der Pater fort. »Ich weiß sehr gut um die Schönheiten dieser Stadt, aber auch um deren Gefahren; der Teufel und seine Komplizen fühlen sich hier besonders wohl. Nehmt Euch in Acht vor den Versuchungen, die überall lauern!« Der Dominikaner hatte bedrohlich seine Stimme gesenkt.
»Was wollt Ihr damit sagen?«, fragte Otto und war sich sicher, dass der Pater es nur gut mit ihm meinte.
»Hütet Euch vor den Verführungskünsten der Töchter Evas, die schon manchen gutgläubigen Mann das Paradies gekostet haben.« Die Züge des Paters verzerrten sich. »Satan weiß, wie seine Werkzeuge einzusetzen sind, Herr Kanonikus!«
Otto musste etwas erwidern, er wollte sich sein Studium nicht madig machen lassen. »Wenn Ihr die Stricke des Teufels so gut kennt, dann wird er ja wohl nicht in Euren eigenen Mauern sein Unwesen treiben. Und mich aus der Bibliothek von Professore Boncompagni zu locken, wird sehr schwer werden.«
»Ah, Boncompagni! Ein Mann Gottes, der ungeniert mit Weibern verkehrt. Nicht gerade das beste Vorbild, das Ihr Euch da ausgewählt habt!« Der Padre rümpfte verächtlich die Nase.
Wie kann dieser Mensch so abfällig über Boncompagni sprechen, dessen guter Ruf bis über die Alpen ausstrahlt! Einen Moment lang wurde Otto unsicher. Sollte er in Augsburg falsch beraten worden sein? Er sagte weiter nichts und schämte sich zu sehr, um den Padre zu bitten, langsamer zu gehen, weil ihn seine Füße schmerzten. Also biss er die Zähne zusammen.
»Ich möchte, dass es Euch gut geht und Ihr erfolgreich Eure Studien betreiben könnt. Kommt zu mir, wenn Ihr nicht weiterwisst!«
»Ich danke Euch sehr für Eure Hilfe und werde gerne auf Euer Angebot zurückkommen«, antwortete Otto, als sie das Konventgebäude mit der Klosterkirche erreicht hatten.
»Ancora uno di ultramontani!19«, rief freudig ein weiterer in Weiß gekleideter Dominikaner schon von Weitem. Schwungvoll kam er Otto mit wehender Soutane entgegen. »Padre Ferrara«, stellte sich der junge Pater vor, »salve! Dominus tecum!«
»Das ist Euer Vorgesetzter, Herr von Gemmingen«, ging Erminio sogleich dazwischen. »Padre Ferrara, in dessen Obhut ich Euch übergebe, ist der Regens des Internats.« Erminio und Ferrara grüßten sich verhalten.
»Nehmt Euch in Acht vor den Fallstricken des Bösen, das