Bergmoosbach lag in einem weiten Tal am Fuße der Allgäuer Alpen. Das Dorf mit seinen restaurierten historischen Häusern, den weiten Wiesen und Feldern war ein beliebter Urlaubsort. Der zwischen sanften Hügeln eingebettete See mit seinem türkisfarbenen Wasser, dem Wildbach, der sich über einen Bergkamm in eine Klamm stürzte und ins Dorf hinunterrauschte, die Burgruine, die Wälder und das Moor mit seiner außergewöhnlichen Pflanzenwelt: Bergmoosbach hatte seinen Gästen viel Abwechslung zu bieten.
Auch der alljährliche Wanderwettbewerb, eine Veranstaltung unter der Leitung des Bergmoosbacher Alpenvereins, hatte in diesem Jahr wieder viele Teilnehmer angelockt. Bei den Seefelds war der Wettbewerb, wie in jedem Jahr, ein besonderes Thema. Das Wartezimmer in der Praxis des Bergmoosbacher Landarztes war zu dieser Zeit noch voller als sonst, da einige Teilnehmer kurz vor dem Wettbewerb das eine oder andere Wehwehchen behandeln ließen.
Das Haus der Seefelds lag gleich am Ortseingang, wenn man aus Richtung Mainingberg, der Nachbargemeinde, kam. Das weiße Gebäude mit den roten Dachschindeln stand auf einem sanft ansteigenden Hügel, und die mintgrünen Fensterläden waren schon von weitem zu sehen. Die prächtige alte Ulme im Hof beschattete gleichzeitig den Eingang des Hauses und den der Praxis, die in einem hell verklinkerten Anbau untergebracht war. Eine Treppe führte an der Wiese vorbei durch den Steingarten hinauf zur Terrasse.
Wie immer um die Mittagszeit, wenn das Wetter es zuließ, stand die Tür offen.
»Nimmt Herr Küster, dein Sportlehrer, in diesem Jahr auch wieder am Wanderwettbewerb teil?«, wollte Traudel, die gute Seele im Hause Seefeld, von Emilia wissen, als sie an diesem sonnigen Spätsommertag eine Woche vor dem Wettbewerb in die Küche kam, um sich an den gedeckten Mittagstisch zu setzen.
»Ich glaube nicht, ihm geht es in letzter Zeit nicht so gut, deshalb habe ich ihm gerade heute erst geraten, dass er mal in Papas Sprechstunde geht«, sagte das Mädchen, dessen helle graue Augen in einem wundervollen Kontrast zu seinem rotbraunen Haar standen.
»War er denn bisher noch bei keinem Arzt?« Die rundliche Traudel pustete ihre grauen Löckchen aus dem Gesicht, zog die Küchenschürze aus, die sie über ihrem hellblauen Dirndl getragen hatte, und setzte sich zu Emilia an den Tisch.
»Lecker, Krautwickel mit Kräutersoße und Petersilienkartoffeln. Welch ein köstlicher Duft nach Senf, Majoran und Kümmel«, schwärmte Emilia und schaute auf die weißen Porzellanschüsseln, die auf dem Tisch standen.
»Was ist jetzt mit Herrn Küster, Spatzl? Hat er keinen Hausarzt?«, hakte Traudel nach.
»Ach so, ja, Herr Küster. Da er in den letzten Monaten öfter krankgeschrieben war, hat er vermutlich einen Arzt. Aber so, wie es aussieht, findet er wohl nicht den richtigen Weg, um ihm zu helfen. Als ihm vorhin in der Sportstunde wieder mal schwindlig wurde, habe ich ihm gesagt, dass Papa ein super Diagnostiker ist.«
»Ein super Diagnostiker? Das klingt nach Superheld«, entgegnete Sebastian Seefeld lachend, der in diesem Moment in die Küche kam.
»Stimmt, du hast etwas von einem Superhelden«, erklärte Emilia mit ernster Miene.
»Ich bin aber weder Superman vom Planeten Krypton, der die Erde retten wird, noch bin ich Batman, der in Gotham City auf Verbrecherjagd geht, oder einer der vielen anderen Helden, die das Gute in der Welt beschützen wollen.« Sebastian hatte bereits in der Praxis seine weiße Hose und das weiße Hemd gegen Jeans und Pulli getauscht und konnte sich gleich zu seiner Tochter und Traudel an den Tisch setzen.
»Für mich bist du ein Superheld. Ich bin deine Tochter, Papa. Du tust doch all diese Dinge für mich, die Superhelden so tun. Du beschützt mich, du verteidigst mich, du bist immer da, wenn ich dich brauche.«
»Hast du auch einmal so über mich gedacht, Sebastian?«, fragte Benedikt Seefeld, der den Vormittag auf dem Golfplatz verbracht hatte und über die Terrasse hereingekommen war. Er hatte schmunzelnd zugehört, welches Kompliment seine Enkelin seinem Sohn gerade gemacht hatte.
»Ehrlich gesagt, als Superheld habe ich dich nicht gesehen, aber du warst immer für mich da, wenn ich dich gebraucht habe, und du hast Traudel ins Haus geholt. Etwas Besseres hättest du nach Mutters Tod nicht für mich tun können«, versicherte Sebastian seinem Vater.
Seine Mutter war bei seiner Geburt gestorben, und Traudel, ihre Cousine und beste Freundin, hatte ihr versprochen, sich um ihn zu kümmern. Sie hatte ihm ihre ganze Liebe geschenkt und es nie versäumt, ihm von seiner Mutter zu erzählen. Sie hatte es verstanden, sie ihm so nahe zu bringen, dass er inzwischen das Gefühl hatte, sie gekannt zu haben.
»Traudel ist eben die allerbeste Mamomi auf der ganzen Welt«, sagte Emilia und kreierte, wie es Teenager in ihrem Alter gern taten, ein Kunstwort aus Mama und Omi.
»Mei«, seufzte Traudel, die so berührt von Sebastians und Emilias Worten war, dass sie mit den Tränen kämpfte.
»Wuff«, machte Nolan und lugte unter dem Tisch hervor, seinem Lieblingsplatz, sobald die Familie sich zum Essen dort versammelte.
»Seht ihr, unsere Superspürnase, der allerliebste Hund des Universums, stimmt auch zu«, verkündete Emilia und streichelte über den wuscheligen Kopf des Berner Sennenhundes.
»Gut, nachdem das nun mit den Superhelden und Superkräften geklärt ist, sollten wir uns dem Essen widmen, sonst wird es nichts mit dem Supergeschmack, weil es dann kalt ist«, erklärte Traudel, die sich wieder gefangen hatte.
»Ich stelle nur meine Tasche ab und wasche mir die Hände, dann bin ich bei euch«, sagte Benedikt und trug seine Golftasche in die Diele.
»Du hast also deinem Sportlehrer geraten, meine Sprechstunde zu besuchen«, kam Sebastian wieder auf den Ausgangspunkt des Gespräches zurück, als sich auch Benedikt zu ihnen gesetzt hatte und das Essen auf den Tellern verteilt war.
»Ich denke halt, dass er Hilfe braucht, sie aber nicht wirklich bekommt«, antwortete Emilia.
»Aber du weißt schon, dass ich im Gegensatz zu den Superhelden nicht unfehlbar bin?«
»Klar weiß ich das, aber du hast ein ausgezeichnetes Gespür, wenn es darum geht, die Ursache für die Beschwerden deiner Patienten zu finden. Das ist einfach Fakt, Papa«, erklärte Emilia voller Überzeugung.
»Ja, das ist Fakt«, stimmte Traudel ihr lächelnd zu und auch Benedikt nickte zur Bestätigung, dass auch er mit Emilias Einschätzung einverstanden war.
»Danke für euer Vertrauen«, antwortete Sebastian und sah lächelnd in die Runde.
»Immer wieder gern«, entgegnete Emilia und klopfte ihrem Vater auf die Schulter.
»Hallo, zusammen, ich wünsche euch einen guten Appetit«, sagte die junge Frau in dem hellroten Leinenkleid, die über die Terrasse in die Küche kam. Sie hatte langes braunes Haar, strahlend grüne Augen, und ihr erster Blick galt Sebastian.
»Hallo, Anna, setz dich zu uns. Oder hast du schon gegessen?«, fragte Traudel Anna Bergmann, die seit einiger Zeit mit Sebastian zusammen war.
»Nein, noch nicht. Ich komme gerade aus Augsburg.«
»Wie war der Vortrag in der Hebammenschule?«, wollte Sebastian wissen, nachdem Anna ihn mit einer zärtlichen Umarmung begrüßt hatte.
»Sie haben alle aufmerksam zugehört und anschließend Fragen gestellt. Ein gutes Zeichen dafür, dass sie sich wirklich für das Thema interessiert haben.«
»Es ging doch um die Frage, ob Hausgeburten generell von einem Arzt begleitet werden sollten, richtig?«, fragte Traudel, während sie einen Teller und Besteck für Anna holte.
»Ja, genau darum ging es. Es ist ein schwieriges Thema. Manche Hebammen sind inzwischen verunsichert. Trotzdem sind