Für diesen und jeden folgenden Schmerz findet John Lennon sein Ventil: Musik, Kunst und Provokation. Er schreibt den »Daily Howl«, comicartige Bilder, Karikaturen mit witzigen Texten; er verstärkt seine Streiche an der Schule und entdeckt die Macht der Musik, denn Elvis Presley erobert gerade die Welt. »Zu der Zeit, als der Rock’n’Roll nach Großbritannien kam – ich war damals um die 15, es muss also 1955 gewesen sein –, war Skiffle eine ganz große Sache. Skiffle ist eine Art amerikanische Folk Music mit Waschbrett, da ging’s immer jing-jinga-jing-jinga. Alle Kids von 15 aufwärts hatten eine solche Gruppe. Ich gründete eine an unserer Schule. Dann traf ich Paul. Wir lernten uns an dem Tag kennen, als ich zum ersten Mal ›Be-Bop-A-Lula‹ live auf der Bühne spielte. Nach dem Auftritt unterhielten wir uns. Ich merkte, dass er Talent hatte. Er spielte hinter der Bühne Gitarre – ›Twenty Flight Rock‹ von Eddie Cochran. Schon bei dieser ersten Begegnung habe ich ihn gefragt: ›Willst du bei uns einsteigen?‹ Ich glaube, er hat am nächsten Tag zugesagt. George kam über Paul in die Gruppe. Paul war der Einzige, den ich mir selbst als Partner ausgesucht habe. Paul und später Yoko. Keine schlechte Wahl, oder? Ich dachte nie daran, die Musik zu meinem Leben zu machen, bis mich der Rock’n’Roll packte. Ich sah Elvis und dachte: Cool. Du verdienst Geld und kriegst die Mädchen. Das hat mein Leben verändert«, erzählt John in seinem allerletzten Interview am 8. Dezember 1980 nachmittags dem Journalisten Dave Sholin für das KFRC RKO Radio. Schon früher variiert er diese Aussage, am beeindruckendsten im April 1975 in der »Tomorrow Show«, als er von Tom Snyder interviewt wird: »Als wir noch in Liverpool waren, schaute ich mir diese Filme an mit Elvis oder anderen. Da standen alle vor dem Kino und warteten auf ihn. Und ich wartete auch auf ihn. Und als er dann auf der Leinwand erschien, schrien sie alle. Also dachte ich: ›Das ist ein guter Job.‹« Lennon, glattrasiert, im weißen Sakko, leger aufgeknöpftes Hemd, ein locker sitzender, schlecht geknoteter braun-beiger Schal, das Haar schulterlang in Mittelscheitel-Frisur, die Brille mit Silbergestell, hebt kurz den Zeigefinger und sagt: »That’s a good job.« Lacher im Publikum, er presst die Lippen aufeinander, macht eine Pause und unterdrückt selbst ein Lachen. Kein Wunder: Sein Album »Walls and Bridges« ist gerade in den internationalen Charts, allein in den USA 35 Wochen lang. Die Single-Auskoppelung »Whatever Gets You Thru’ The Night« gelangt als erste und einzige Solosingle zu seinen Lebzeiten in Amerika auf Platz eins.
Den ersten Weg zur ersten Nr.1 ebnete die erste Mundharmonika, die er mit acht Jahren zu spielen beginnt, nachdem ein Pensionsgast bei Tante Mimi sein Talent entdeckt hat. Mit einer chromatischen Harmonika und einem Heft zum Selbststudium lernt er Dutzende von Liedern, englische Folksongs ebenso wie moderne Schlager. Doch Mimi Smith sieht diese Entwicklung mit Sorge: »Damit fangen wir gar nicht erst an, John. Ein Klavier kommt mir nicht ins Haus«, lehnt sie den Wunsch nach mehr Instrumenten ab.
Obwohl die Tante ihm später eine Gitarre schenkt – nicht die erste, die bekommt er von seiner Mutter –, zieht sich ihr Misstrauen gegen Musik wie ein roter Faden durch die Jugend des Jungen. Mimi Smith empfindet auch seine Zeichnungen und Gedichte als Zeitverschwendung, und je heftiger sie sich gegen Teddy-Look und Rock’n’Roll wehrt, desto attraktiver wird diese Gegenkultur für ihren Neffen. Zudem ist das ein Grund, wieder verstärkt den Kontakt zu seiner Mutter zu suchen. Dort ist alles nicht so ordentlich und sauber wie bei der pingeligen Tante. Julia Lennon spielt Banjo, bringt ihrem Sohn die ersten Akkorde bei, ist begeistert von der mitreißenden Musik Fats Dominos und Elvis Presleys, tauft eine ihrer Katzen Elvis, hört sich gerne die neuen wilden Songs im Radio an und tanzt dazu; in ihrem Haus pulsiert das musikalische Blut, das John sich wünscht und das ihn weiterbringt. Julia schenkt ihm schwarze Röhrenjeans, einen Regenmantel mit gepolsterten Schultern und ein buntes Hemd: Rock’n’Roll-Mode, die der Teenager vor seiner Tante verstecken muss.
Mit den von John Lennon gegründeten »Quarrymen«, benannt nach seiner Schule, kommt es zu mehreren Auftritten. Später heißt seine Band für kurze Zeit »Johnny and the Moondogs«, noch später »John and the Silver Beetles«, »The Silver Beetles« (die silbernen Käfer), nur »Silver Beats« oder »The Beetles« oder »The Beatals« (»beat all« – wir schlagen sie alle). Schließlich empfiehlt – hier teilen sich die Meinungen der Beatles-Forscher – »der Mann auf dem flammenden Kuchen« (»the man on the flaming pie«), der mit John Lennon befreundete Autor Royston Ellis, in der letzten Version des Bandnamens das zweite »e« in ein »a« zu verändern, aber ohne Wettbewerbsgedanken, daher nicht mit der Endung »als« sondern wieder »les«. Damit hält man Abstand von den Crickets, der Band Buddy Hollys, und von Marlon Brando, der im Film »Der Wilde« Anführer einer Gang ist, die sich von einer anderen Bande namens »The Beetles« distanziert und weckt stattdessen Assoziationen zum Beat, zum Schlag, also zur Beatmusik und zu den Beatniks, den Autoren und ihren Werken. Untersuchungen zur Namensfindung der Beatles füllen ganze Ordner. Als Paul McCartney 1996 den Song »Flaming Pie« aufnimmt, gewinnt die Ellis-Version an Glaubwürdigkeit, zumal Royston Ellis die WG-Bewohner in London 1959 gerne bekocht und einmal einen Kuchen so stark anbrennen lässt, dass er im Ofen Feuer fängt. John Lennon selbst zieht die Verbindungslinie in seinem ersten Artikel »On The Dubious Origins Of Beatles, Translated From The John Lennon« für die erste Ausgabe vom 6. Juli 1961 der Zeitung »Mersey Beat«, in dem er in seinem sich hier schon abzeichnenden Jabberwocky-Stil von einer Vision erzählt, in der ihm »ein Mann auf dem flammenden Kuchen« den definitiven Beatles-Namen bringt. Aber bis zur Verwandlung dieser Beatles in die Fab Four muss noch viel geschehen, auch wenn die Grundlage, die wilde Entschlossenheit, als Musiker erfolgreich zu sein, vorhanden ist. »Quarrymen«-Begleitmusiker Rod Davis erinnert sich: »John bearbeitete seine Gitarre dermaßen hart, dass ihm immer wieder mal eine Saite riss. Dann reichte er sie mir, nahm mein Banjo und spielte weiter, während ich für ihn die neue Saite aufzog.«
Zur Basis für den späteren Erfolg gehört auch Lennons Instinkt, sein zielgerichtetes Management. Der Boss stellt rückblickend seine Überlegungen bei der Erweiterung der Quarrymen durch McCartney als Win-Win-Situation dar: »Ich dachte für mich: ›Der ist so gut wie ich.‹ Ich war bis dahin der Chef gewesen. Und jetzt überlegte ich: ›Was wird wohl passieren, wenn ich ihn aufnehme?‹ Die Frage lautete, ob ich meine leitende Position behalten oder die Gruppe insgesamt stärker machen wollte«, erklärt er im Interview mit dem »Rolling Stone«-Herausgeber Jann Wenner im Dezember 1970.
Paul McCartney schlägt bald darauf seinen Freund George Harrison als Sologitarristen für die Band vor. Seit dem Sommer 1957 besteht das Ur-Trio der Beatles zwar noch unter dem Namen »Quarrymen« und mit wechselnden Schlagzeugern, Bassisten und weiteren Gastmusikern, doch John, Paul und George gehen fortan gemeinsame Wege und erobern musikalisch die Welt.
John Lennon singt mit seiner hohen schneidenden Stimme die fetzigen Hits aus Übersee. Er steht breitbeinig, im Rhythmus leicht wippend und etwas vornübergebeugt, ohne Brille und kurzsichtig, wie er ist, mit zu Schlitzen verengten Augen – weswegen er manche Konzertbesucher an einen Japaner erinnert – vor den anderen Musikern in der Mitte der Bühne. Hier lernt er sein Handwerk, was zu den herausragenden Rhythmusparts der später erfolgreichen Beatles führen wird. Wie außergewöhnlich John die Gitarre spielt, zeigt eindrücklich Mike Pachelli in einem 20-Minuten-Video »The Genius of John Lennon Guitar« (2016). John wirkt auf der Bühne aufreizend und aggressiv. In erster Linie will er sein Publikum sehen und die Wirkung prüfen, die er auf es hat. »Ich hatte immer eine Bande, ich war immer der Boss, und die Beatles wurden eben meine neue Bande. Ich hatte immer eine Gruppe von drei