John Lennon. Nicola Bardola. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nicola Bardola
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9783963181016
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unwirkliche Welt zu folgen.

      Heute stehen Bäume, gestiftet von vielen Nationen, im von Yoko Ono initiierten Gedenkpark Strawberry Fields im Central Park. Millionen Besucher aus aller Welt erinnern sich jedes Jahr dort besonders intensiv an den Ausnahmekünstler. Und immer noch ist sein Baum entweder zu hoch oder zu niedrig.

      Mit geschlossenen Augen zu leben ist leicht,

      alles misszuverstehen, was man sieht.

      Es wird schwierig, jemand zu sein. Aber das wird schon.

      Mir ist das nicht so wichtig.

      Lass mich dich mitnehmen.

      Denn ich gehe zu den Erdbeerfeldern.

      In »Strawberry Fields Forever« verstärkt John seine Wortakrobatik, denn nichts ist wirklich. Always, no sometimes, think it’s me, but, you know, I know when it’s a dream. Der Text und seine aufwändige musikalische Umsetzung bilden das erste und – wie manche Kritiker meinen – unübertroffene Beispiel psychedelischer Popmusik, begleitet von einem kongenialen Video mit Farbspielen, rückwärtslaufenden Passagen (wie am Ende auch die Instrumente), mit Nahaufnahmen von Augenblicken (auch im wahrsten Sinne des Wortes) der sich in Wandlung befindlichen Fab Four, und im Mittelpunkt ein Upright-Piano, das nicht nur gespielt, sondern bemalt und bis zum Umfallen traktiert wird.

      Die ersten Jahre bei Tante Mimi und Onkel George sind von Verlustängsten geprägt. Die Sorge, auch dieses Zuhause zu verlieren, ist groß, denn Erwachsene – so hat der Junge gelernt – sind unberechenbar. Verlustängste gepaart mit Eifersucht und Besitzansprüchen werden ihn sein ganzes Leben lang begleiten – später auch seinen Ehefrauen Cynthia und Yoko gegenüber. Das beginnt schon in den ersten Jahren bei Tante Mimi: »John benahm sich nie ungehobelt. Er hat mit jedem geredet. Wenn wir mit dem Bus in die Stadt fuhren, setzte er sich nie neben mich. Er saß immer oben. Ich setzte mich an die Tür, für den Fall, dass er rausrannte. Oft sah er zu mir runter und sagte: ›Hast du mich vergessen?‹ – ›Nein, ich hab dich nicht vergessen‹, antwortete ich dann immer«, erzählt Tante Mimi im Film »Imagine«, der 1989 in die Kinos kam.

      Tante Mimi erinnert sich an den aufgeweckten und begabten Grundschüler, der Kinderreime rasch auswendig kann und über seine eigenen Witze lacht. Er variiert Kinderlieder, erfindet neue und blüht sprachlich auf, als er zum ersten Mal Lewis Carrolls Nonsense-Sprache »Jabberwocky« hört. Von da an treibt er sein Leben lang Schabernack mit Redewendungen, einzelnen Wörtern und eigenen Neologismen. »John war ständig mit irgendetwas beschäftigt. Wenn er nicht malte, dann schrieb er Gedichte oder las. Er war eine Leseratte. Immer nur Bücher, Bücher, Bücher«, sagt Mimi.

      Solt filmt die über 80-jährige Mimi Smith in Nahaufnahme: eine vitale, gepflegte und entschlossene Frau, die mit viel Humor und einem rauchigen Lachen vom jungen John erzählt, der offenbar nie wusste, woher es kam, dass seine Tante meistens frühzeitig ahnte, wann er wieder eine Dummheit begehen wollte. Ohne einen Hauch von Scouse, dem »Liverpudlian Accent«, den sie ihm ihr Leben lang vergeblich auszutreiben versuchte, berichtet sie, wie sich ihr Ziehsohn selbst in den Schlaf sang und eigene kleine Geschichten schrieb und illustrierte. Einige dieser Kladden sind noch erhalten und erzielen bei Versteigerungen immer wieder schwindelerregende Preise, die bei keinem anderen Auktionsobjekt ähnlicher Art erreicht werden.

      Kein Output ohne Input: Zur Lieblingslektüre des Heranwachsenden gehören neben Lewis Carroll auch Richmal Cromptons 37-bändiger Zyklus um den elfjährigen Helden William Brown sowie zahlreiche Comics. Inspiration kommt zudem von verschiedenen Rundfunksendungen. All diese Erfahrungen bringt der Junge auch in den Alltag mit seinen Schulkameraden ein. Er führt mehrere Freunde an und entwickelt sich zunehmend vom braven, fleißigen und gewissenhaften Kind zum kleinen Rowdy, der kaum noch Hausaufgaben und Schule, dafür Streiche gegen alle Arten der Obrigkeit im Sinn hat. Es hagelt Schläge im Lehrerzimmer, denn damals ist körperliche Bestrafung noch an der Tagesordnung, was teilweise auch seine Neigung zu (Gegen-)Gewalt erklärt. Zudem übt er sich mit Erfolg bei kleineren Ladendiebstählen und wird nie erwischt.

      Tante Mimi weiß nichts von diesen Eskapaden und kämpft unverzagt für eine perfekte Erziehung. Sie sorgt für absolute Verlässlichkeit in den zehn Jahren, in denen der Junge ständig bei ihr lebt. Sie verlässt nie das Haus, nachdem der kleine John – in den Anfangsjahren meistens mit einem Teddy unter dem einen und einem Panda unter dem anderen Arm – eingeschlafen ist. Im Flur lässt sie das Licht brennen, damit ihr Neffe weiß, dass sie jederzeit da ist. »Wenn ich böse mit ihm war, sagte John immer: ›Eines Tages bin ich berühmt, dann wird es dir leidtun.‹ Er war damals gerade dreizehn, und ich sagte: ›Ja, sicher, aber bis es so weit ist, marsch ins Bett.‹«

      Mimi tut alles, um die Fehler ihrer jüngeren Schwester Julia auszugleichen. Zudem ist John gleichsam ihr Wunschkind, das sie nie hatte und das Julia nicht so richtig wollte. Auch für Onkel George ist sein Neffe ein Geschenk. Die lebenslange Zeitungsleidenschaft entsteht mit seinem Onkel, der regelmäßig mit dem ABC-Schützen das Lokalblatt nach geeigneten Überschriften durchblättert. Später durchforstet Lennon die Zeitung nach geeigneten Textzeilen für seine Songs und wird oft fündig.

      Mit sieben Jahren wird die Kurzsichtigkeit offiziell konstatiert, und John Lennon bekommt seine erste Brille, ein kostenloses Kassengestell, das er ablehnt, woraufhin ihm Tante Mimi auf eigene Kosten eine passgenaue kauft, die er trotzdem ungern aufsetzt. Der Versuch, ohne Brille durchs Leben zu kommen, führt zu unzähligen komischen Situationen und Ungeschicklichkeiten, wird in späten Teenagerjahren nur kurz dank Vorbild Buddy Holly mit seiner dicken Hornbrille unterbrochen und findet erst 1967 ein Ende, als er in Richard Lesters Antikriegsfilm »How I Won The War« mitspielt, wo er als Soldat Gripweed eine runde Brille aufhat, und sie seither kaum noch absetzt. Was zu Beginn der Karriere hinderlich ist, entwickelt sich zum Markenzeichen. Aus Schwächen werden Stärken – das betrifft viele weitere Eigenschaften John Lennons, wie den Umgang mit dem eigenen Körper, mit Essen, mit Drogen oder sein Umgang mit Frauen und vor allem sein Verhältnis zur eigenen Kindheit.

      Die Grundschule schließt John Lennon mit guten Noten ab, zur Belohnung bekommt er ein Raleigh »Leonton« Fahrrad und besucht künftig die von seiner Tante für ihn ausgesuchte Quarry Bank High School in der Harthill Road, die von der Menlove Avenue leicht mit dem neuen Fahrrad erreichbar ist; das lateinische Motto der Schule lautet »Ex hoc Metallo Virtutem – aus diesem Eisen wird Tugend geschmiedet«. Doch bei Lennon greift der Spruch nicht, das Gegenteil ist der Fall. Die Vernunft und Angepasstheit an Tante Mimis strenges Regime wandelt sich allmählich in ein subversives Verhalten und konsequenten Ungehorsam. Dem elitären Schulsystem will er sich nicht unterordnen, stattdessen rebelliert er mit blühendem Unsinn, mit schlimmen Streichen und absurden Taten. Er sucht sich wie schon in der Grundschule einen guten Freund, mit dem er durch dick und dünn geht. Und er gründet eine Gang: »Ich war aggressiv, weil ich anerkannt sein wollte. Ich wollte der Anführer sein. Das schien mir attraktiver als irgendeiner dieser feinen Pinkel zu sein. Ich wollte, dass jeder das tat, was ich ihm sagte, dass man über meine Witze lachte und mich als Boss anerkannte.« Diese Eigenschaft bleibt ihm bis zuletzt erhalten. Wenn er anderen den Vortritt lässt, ihnen Anerkennung, Bewunderung oder Zuneigung erweist, dann immer im Bewusstsein, dass im Ernstfall er der Boss ist. Ein cholerischer oder gar gewalttätiger Anfall, und seine Partner, egal ob Paul, Brian, Cynthia oder Yoko ducken sich und kuschen. Seine Autorität hat ein enormes Ausmaß, allein seine sonore Sprechstimme schüchtert sein Gegenüber ein. John Lennon kann seinen messerscharfen Verstand, seine geschickte Wortwahl und seinen inhärenten Urzorn – nicht zuletzt gespeist durch die in der Kindheit erfahrenen Zerwürfnisse – ebenso blitzartig aktivieren wie seinen Charme und seinen Witz und damit auf diese oder jene Weise Probleme beseitigen und seinen Willen durchsetzen.

      »Irgendetwas stimmte nicht mit mir, denn ich schien Dinge zu sehen, die andere Leute nicht sahen. Das Problem hatte ich mit zwölf, aber auch schon mit fünf. Als Kind sagte ich oft: ›Aber genau so ist es.‹ Und alle sahen mich an, als sei ich übergeschnappt. Deshalb habe ich immer an mir selbst gezweifelt. Bin ich verrückt oder ein Genie? Ich wusste immer, dass ich es schaffen würde, ich war mir nur nicht sicher, als was. Ich las regelmäßig Buchbesprechungen, Kunst- und Musikkritiken, noch bevor ich etwas herausgebracht hatte. Und irgendwie erwartete ich immer, meinen Namen in einer Kritik zu entdecken, obwohl ich weder ein Buch noch einen Song geschrieben