Jackson Browne spricht in seiner Laudatio von der »thrilling aloneness«, um zu illustrieren, wie sein Idol »A Day In The Life« interpretiert. Die Reduktion auf das Wesentliche, den Ausdruck von Schmerz auf dem Soloalbum »John Lennon/Plastic Ono Band« könne man nie wieder vergessen. Dagegen das Glück in »Double Fantasy« – die neue und gereifte Schönheit in Lennons Stimme, beeinflusst von seinem Gesang zu Hause für seinen Sohn Sean. In Jackson Browne hat John Lennon einen aufmerksamen, feinfühligen und gleichzeitig rebellischen und politisch engagierten Fürsprecher, der seine Botschaft weiterträgt.
Und der charismatische Musiker hat viele Fürsprecher, aber auch Kritiker: John Lennon, der die Wahrheit singen will, der immer glaubt, das Recht zu haben, über die Themen zu sprechen, die ihn fesseln, der sagt, was er sagen muss, und dabei seine Liebsten, seine Verwandten, seine Freunde, seine Angestellten und seine sonstigen Bekannten und auch Fremde irritiert, die auch noch nach seinem Tod versuchen, sein Wesen zu erfassen – von seiner Halbschwester Julia Baird bis zum Musikjournalisten Ray Coleman, vom offiziellen Beatles-Biografen Hunter Davies bis zum misanthropischen Faktenhuber Albert Goldman (die beiden streiten sich während eines sehenswerten Fernsehduells 1990 darüber, wer dank welcher Quellen näher an der Wahrheit über Johns Leben ist); vom vorläufig letzten Verfasser sogenannter definitiver Lennon-Biografien Philip Norman über die Geliebte May Pang bis hin zum depressiven und überforderten Assistenten Frederic Seaman oder dem Bildhauer Gary Tillery, der 2009 im theosophischen Verlag Quest Books »The Cynical Idealist: A Spiritual Biography of John Lennon« veröffentlicht und seine Ausführungen auf ein zweifelhaftes religiöses Erlebnis des Stars zurückführt, das der Beatle 1966 gehabt haben soll, das Lennon selbst jedoch bei all seiner Selbstauskunftsfreude nie erwähnt hat.
Eine Besonderheit des Rockrebellen besteht in der explosiven Mischung seines Charakters. John Lennon begeistert die Massen, aber je näher die Menschen ihm sind, desto heftiger stößt er sie vor den Kopf, provoziert auch im engsten Kreis bis an den Rand des Erträglichen. Und wenn ein Journalist darunter ist, dann kann der private Affront als Welle öffentlicher Empörung wiederkehren. Weil aber die Liebe sein Leitmotiv ist, befriedet John Lennon selbst immer wieder seinen Zorn.
»Oh My Love« – das Wort ist Liebe. Alles, was du brauchst ist Liebe. Auf jedem Album entdeckt Lennon die Liebe neu. Auf »Imagine« textet er das Unmögliche, da kann zum ersten Mal sein Verstand dank der Liebe fühlen: Oh my love, for the first time in my life my mind is wide open … my mind can feel. Und auf seinem letzen Album »Starting Over« bleibt die Liebe etwas Besonderes: Our life together is so precious together. We have grown – we have grown. Although our love is still special.
»Ich hatte immer eine Bande«
Die Anfänge in Liverpool
Das Rätsel der Liebe bildet den Mittelpunkt in John Lennons Leben. Immer wieder umkreist er rational und emotional, verbal, musikalisch, filmisch oder grafisch das Geheimnis der Zuneigung, der Zweisamkeit, der Erotik.
Das Rätsel beginnt, als der Matrose Alfred Lennon 1928 einen Spaziergang durch den Sefton Park in Liverpool unternimmt. Ein hübsches Mädchen mit rötlichen Haaren sitzt auf einer Bank am Ufer des Sees, und er spricht es an. Die junge Frau lacht, weil der Hut des Seemanns zu groß ist. Er nimmt ihn vom Kopf und wirft ihn in den Teich. Das Mädchen mit den roten Haaren heißt Julia Stanley, und dieser gewitzte junge Mann hat sie beeindruckt.
John Lennons 1947 geborene Halbschwester Julia Baird beschreibt diese Szene eindrucksvoll in ihrer Biografie »John Lennon. My Brother«. Sie zählt zu den vertrauenswürdigsten und zuverlässigsten Quellen, wenn es um Kindheit und Jugend des Musikers geht. Es ist faszinierend, ihre Ausdrucksweise, Gestik und Mimik zu erleben. Nicht nur äußerlich ist sie ihrem Bruder sehr ähnlich, auch ihr Esprit, ihre freie und wilde Lebenseinstellung, die sie sich bis heute bewahrt hat, erinnern sehr an ihn. Sie arbeitete bis 2004 als Lehrerin. Seither ist sie Leiterin der empfehlenswerten Cavern City Tours in Liverpool. Mit etwas Glück kann man sich die historischen Beatles-Schauplätze von ihr persönlich zeigen lassen.
So wie diese Begegnung geschildert wird, könnte der Auftakt einer schönen Liebesgeschichte aussehen, doch die Beziehung zwischen Julia Stanley und Alf Lennon ist von Anfang an schwierig. Eigentlich passen sie gut zueinander: Sie sind talentierte Tänzer, musizieren beide und ergänzen sich in vielerlei Hinsicht, aber Julias Vater mag Alf, den Schiffssteward, nicht. »Unsere Mutter Julia stammte aus dem wohlsituierten Mittelstand. Sie und ihre vier Schwestern wuchsen in einem Viertel auf, das zu den gepflegtesten Wohngegenden von Liverpool gehörte, im Schatten der großen anglikanischen Kathedrale aus rotem Sandstein«, erinnert sich Tochter Julia. Ihre Mutter ist ungemein attraktiv, ja, genau betrachtet viel zu hübsch für den ungehobelten und etwas kurzbeinigen Matrosen. Sie spielt Banjo und Klavier und liegt mit den steifen Regeln ihres Elternhauses im Clinch. Sie will sich amüsieren, und weil sie sich gerne mit Filmen in andere Welten träumt, jobbt sie als Platzanweiserin im Kino, wo sie viele Verehrer bis hin zum Kinobesitzer selbst hat. Vielleicht wäre die Romanze nach einigen Monaten zu Ende gegangen, aber die Ablehnung des Vaters weckt Julias Trotz, und sie mag Alfs trockenen Witz, mit dem er das feine Gehabe ihres Vaters karikiert. Mit seiner Hilfe kann sie gegen die Hochnäsigkeit in ihrem Elternhaus rebellieren, was sie auch gründlich tut: 1938 heiratet Julia heimlich, und knallt triumphierend die Hochzeitsurkunde, die sie als Mrs. Lennon ausweist, auf den Wohnzimmertisch des vornehmen georgianischen Familienhauses in der Huskisson Street.
Der Katalysator für ihre Liebe ist ästhetischer und sozialer Natur. Mit Alf, dem Konterpart zu ihrem Vater, grenzt sich Julia von diesem ab, verstärkt ihre eigene Identität und Unabhängigkeit. Dabei tut sie ihrem autoritären Vater weh, zahlt Rechnungen heim, irritiert auch ihre Mutter und ihre Schwestern, denen es allen gelingt, standesgemäße Verehrer zu finden. Julia entwickelt sich mit Alf an ihrer Seite in eine Richtung, die nicht den Vorstellungen und Wünschen ihrer Eltern entspricht.
Das Verhalten ihres einzigen Sohnes weist später Ähnlichkeiten zu dem der Mutter auf: Bei aller künstlerisch-geistigen Seelenverwandtschaft zu Yoko braucht John die fremdländische und angeblich hässliche Japanerin auch, um sich von der zwanghaft heilen Beatles-Welt zu verabschieden. Je stärker die Ablehnung durch sein Umfeld, durch die Fans und durch die Medien ist, desto größer werden sein Trotz und sein Wille, an der Geliebten und späteren Ehefrau festzuhalten. Mit Yoko Ono befreit sich John Lennon endgültig von der Pilzkopf-Vergangenheit.
Die vor und mit Yoko Ono oft von Lennon besungene romantische, vom Himmel fallende und alles überstrahlende Liebe wird bei seinen Eltern und später bei ihm selbst von vielen Umständen begleitet, die nichts mit erotischer oder geistiger Anziehung zu tun haben. Die jeweiligen Partner übernehmen für ihn bestimmte Funktionen innerhalb der Beziehungen abseits amouröser Empfindungen. Der Radio-Journalist und spätere Lennon-Vertraute Elliot Mintz formuliert treffend: »Als John Yoko traf, fand er den fehlenden Teil seiner Stimme.«
Nach den Blitzhochzeiten von Alf und Julia in Liverpool 1938 und von John und Yoko in Gibraltar 1968 – auch das eine Parallele – ist zunächst die Bestürzung allenthalben groß. Aber sowohl die erstaunte und mit Bed-ins und Bagism konfrontierte Weltöffentlichkeit als auch das Haus Stanley 30 Jahre zuvor gewöhnen sich an die neuen Umstände und versuchen, das Beste daraus zu machen. Alf und Julia dürfen aufgrund ihrer Geldknappheit und nach einer zögerlichen Versöhnung mit ihren Eltern in das neu erworbene Reihenhaus Newcastle Road Nr. 9 ziehen.
»Ich war kein Wunschkind. 90 Prozent der Menschen in meinem Alter sind die Konsequenz von zu viel Whiskey«, sagt Lennon im Hinblick auf Liverpool in den 1940er Jahren. Andererseits ist es nur natürlich, dass sich nach fast zwei Jahren Ehe Nachwuchs einstellt. Akribische Untersuchungen haben ergeben, dass am Abend vor und am Abend nach John Lennons Geburt, am 9. Oktober 1940, Angriffe der deutschen Luftwaffe über Liverpool stattfanden. Nicht jedoch – wie so oft kolportiert – in der Nacht der Niederkunft. Der Musiker selbst nährt fälschlicherweise im Buch »In His Own Write« die Legende von der Bomben- und Geburtsnacht am 9. Oktober. Vor