Weil immer wieder deutsche Bomben auch auf das Zentrum Liverpools fallen, zieht Mutter Julia mit Sohn John in den Vorort Woolton, wo sie sich während Vater Alfs Abwesenheit – er arbeitet als Schiffssteward für die Marine – abends amüsiert, nachdem sie den Jungen in die Obhut ihrer älteren Schwester Mimi gegeben hat. Als Alf davon erfährt und Julia später auch noch von einem Soldaten schwanger wird, führt dies zu stärker werdenden Spannungen und bald darauf zum Ende ihrer Beziehung.
Julias Vater besteht darauf, dass seine unerwünschte Enkelin Victoria nach der Geburt 1945 zur Adoption freigegeben wird. Sie kommt zu norwegischen Pflegeeltern und wandert bald mit ihnen nach Skandinavien aus. Erst 1998 meldet sich Ingrid Pedersen aus Norwegen bei der BBC und belegt mit mehreren Urkunden, die verschollene Halbschwester zu sein. Offenbar ist sie das Baby, das 1940 von Julia und dem Soldaten Taffy Williams gezeugt und wenig später vom norwegischen Ehepaar Margaret und Peder Pedersen adoptiert und von Victoria in Ingrid umbenannt wurde. Entgegen Pedersens Aussage hat der Musiker aber offenbar nie etwas von ihrer Existenz erfahren. Auch Julia Baird kannte bis 1998 die Identität ihrer Halbschwester nicht.
Als Julia Lennon den Oberkellner Bobby Dykins kennenlernt, lässt ihre Abenteuerlust nach; sie nehmen gemeinsam eine Wohnung unweit der Menlove Avenue und gründen eine Familie: 1947 kommt Julia, 1949 Jacqueline zur Welt. Nur heiraten können Julia und Bobby nie, denn Alf verweigert die Scheidung, weshalb Julia bis zu ihrem viel zu frühen Tod im Juli 1958 mit Bobby in wilder Ehe lebt.
»Penny Lane ist nicht nur eine Straße, sondern auch das Viertel, in dem ich bis zu meinem fünften Lebensjahr mit Mutter und Vater gewohnt habe. Nur bekam meine Mutter ihr Leben nicht in den Griff. Der Mann brannte durch und fuhr zur See, außerdem war Krieg. Sie wurde nicht mit mir fertig, und schließlich kam ich zu ihrer älteren Schwester«, so John Lennon.
Leidtragender des unsteten Lebenswandels und Liebeshungers der Mutter ist der kleine Sohn. Mitte der 1940er Jahre ist die Situation im Hause Lennon äußerst komplex: Alfred Lennon kommt und geht nach Belieben. Er ist häufig auf Schiffsreise und ein unzuverlässiger Vater. Im Ausland wie in England landet er immer mal wieder wegen Randale und Trunkenheit im Gefängnis, beruflich geht es abwärts. Andererseits ist er sensibel und hoch emotional und möchte sich ernsthaft um seinen Sohn kümmern, doch um den streitet sich schon der Stanley-Schwestern-Clan, in dem männlicher Nachwuchs eine Seltenheit ist.
Wie Julia lebt Alf in einer neuen Partnerschaft und in einer neuen Wohnung. Der kleine John ist mal da, mal dort, mal bei Tante Mimi, mal bei anderen Schwestern Julias und seinen vielen Cousins und Cousinen in ländlicher Umgebung. Es kommt gar zu dramatischen Szenen, in denen der Junge vom Vater entführt und anschließend eine Woche lang über alle Maßen von ihm verwöhnt wird. »Ich verständigte Julia«, erinnert sich Mimi, »und sagte: ›Alf hat John mitgenommen.‹ Sie antwortete: ›Ich werde ihn finden.‹ Was ihr dann auch gelang.«
Am Ende dieser turbulenten Zeiten wird John im Juli 1946 von seinen Eltern aufgefordert, sich zwischen seinem Vater und seiner Mutter zu entscheiden. Natürlich will er beide, aber er bekommt weder Alf noch Julia, sondern geht definitiv und für mehr als zehn Jahre zur kinderlosen Tante Mimi und ihrem Mann George.
»Man stelle sich vor, sie hat den Fünfjährigen gefragt: ›Bei wem willst du bleiben?‹ Er wusste es nicht. Er hatte seine Mutter eine Weile nicht gesehen, und deshalb antwortete er: ›Bei Daddy.‹ Als er dann aber sah, dass sie gehen wollte, sagte er: ›Nein, nein, bei Mami.‹ Julia brachte ihn schließlich zu mir zurück«, erzählt Mimi dem Regisseur Andrew Solt bei seinen Recherchen für den Film »Imagine«.
Tante Mimi und Onkel George adoptieren schließlich gefühlsmäßig, aber nie amtlich den reizenden, fast sechsjährigen Buben, den »Nowhere Boy«, wie er im gleichnamigen britischen Kinofilm 2009 bezeichnet wird. Auf dem Papier bleiben Vater Alf sowie Julia, die in der Nachbarschaft lebt und mit ihrem gewissenhaften Bobby und den zwei gemeinsamen Töchtern zur familiären Ruhe kommt, bis zur Volljährigkeit des Jungen die Erziehungsberechtigten.
Obwohl beide Elternteile in seiner unmittelbaren Umgebung leben, verbringt der Junge die Grundschulzeit so, als wäre er Vollwaise. Aus der Familie, die seine sein sollte, sind zwei andere geworden, er lebt in einer dritten, und er muss das Beste daraus machen. Doch die Zerrüttung, die Zerbrechlichkeit von Familienstrukturen, der Egoismus von Vätern und Müttern, die Kinder zeugen, ohne zusammenzubleiben, ohne ein Familiennest zu bauen, und dann doch um diese Kinder kämpfen und sie irgendwann frustriert verlassen, wird ihn sein Leben lang begleiten. Sei es bei der Scheidung von Cynthia und der Entfremdung von seinem ersten Sohn Julian, sei es bei der Suche nach Yokos Tochter Kyoko, sei es beim Versuch, in seinen letzten fünf Lebensjahren mit Yoko und seinem Sohn Sean zu Hause präsent zu sein, mit seinem Kind zu spielen, für ihn zu kochen, ja, er wechselt sogar Baby Seans Windeln, was für (Promi-)Väter damals einer Sensation gleichkommt. Wie fast immer in seinem Leben macht John Lennon auch in diesem Fall keine halben Sachen, sondern tauscht konsequent und radikal das Berufs- gegen das Privatleben ein.
Tante Mimi, eine ausgebildete Krankenschwester, versucht dreißig Jahre davor auch alles richtig zu machen, obwohl – oder gerade weil – sie die ständige Sorge begleitet, dass sowohl Alf als auch Julia Lennon jederzeit Anspruch auf ihren Sohn erheben könnten. Mimi Smith hat keine eigenen Kinder, aber Übung als Babysitter und Mutterverstärkung für ihre vier jüngeren Geschwister. Streng, ordentlich, pünktlich und hygienebewusst versucht sie nun ihrem Neffen einen festen Rahmen, ein Fundament, Sicherheit und Familienglück zu geben. Dazu gehört, dass der Kleine wie ein gut erzogenes Kind aus der Mittelschicht spricht und sich den harten Akzent der städtischen Arbeiterklasse abgewöhnt. Zum Haushalt gehören auch zwei Katzen und die Hündin Sally. Hinzu kommt später eine weitere Katze, die dem achtjährigen John hinterherläuft und die er nach langem Betteln behalten darf, weil sich kein Besitzer meldet. Der Junge tauft sie Tim und fragt Mimi bis zum Tod der Perserkatze 20 Jahre später bei jedem Telefonat nach ihrem Befinden. Katzen begleiten den Musiker ein Leben lang, auch im Dakota-Building in New York tummeln sich immer mehrere, um die er sich persönlich kümmert.
John Lennon kommt zwar aus zerrütteten Verhältnissen, aber die neuen äußeren Umstände erweisen sich ab 1946 als günstig für ihn. Die Doppelhaushälfte in Liverpools Vorort Woolton an der Menlove Avenue 251 gehört seit 1942 Mimi und George Smith, sie sind keine Mieter, sondern Hausbesitzer, was im Nachkriegsengland, wo gesellschaftliche Unterschiede viel feiner wahrgenommen werden als in Kontinentaleuropa, den Beatle einmal zu dem Kommentar verleitet: »Mein Tantchen besaß eine Doppelhaushälfte mit einem kleinen Garten. In der Nachbarschaft wohnten Ärzte, Anwälte und so ähnliche Leute – es war also keine arme Slumgegend, wie immer wieder behauptet wurde. Ich war ein netter, adretter Vorstadtjunge. In der gesellschaftlichen Hierarchie stand ich eine Sprosse über Paul, George und Ringo, die in staatlichen Sozialwohnungen aufwuchsen. Wir besaßen ein eigenes Haus und einen eigenen Garten. So etwas hatten sie nicht. Verglichen mit ihnen war ich geradezu ein feiner Pinkel.«
Ganz in der Nähe dieses nach dem Berg Mendips benannten Hauses liegt das Kinderheim der Heilsarmee von Woolton namens Strawberry Field, ein großes viktorianisches Gebäude mit einem ausgedehnten Park und Waldstück. Dort finden regelmäßig Sommerfeste statt, die Tante Mimi mit ihrem Neffen besucht. Strawberry Field befindet sich in der Beaconsfield Road, nur fünf Minuten zu Fuß von ihrem Zuhause in der Menlove Avenue. Als der Junge eine Abkürzung dahin findet, spielt er in Grundschultagen oft und gerne mit Freunden in der Anlage, sieht echte Waisenkinder, deren Schicksal er mit dem eigenen vergleicht, findet Trost in der Erkenntnis, dass es anderen viel schlimmer geht als ihm, und liebt es, sich auch alleine dorthin zurückzuziehen, um nachzudenken, zu träumen. Leider steht das im gotischen Stil erbaute Gebäude nicht mehr. Nur auf alten Schwarzweißfotos ist das Haus noch zu sehen und erinnert entfernt an das Dakota in New York: Einer Kathedrale nicht unähnlich, überragen über ein halbes Dutzend spitze Giebeldächer die mächtige Fassade mit säulenbestandenem Haupteingang.
1966 nimmt John Lennon die Erinnerung an das Strawberry-Field-Waisenhaus zum Anlass, einen seiner bekanntesten Songs über Einsamkeit und das Alleinsein-Wollen zu schreiben. Er setzt den Namen in die Mehrzahl, notiert in einer frühen Version, niemand liege auf seiner Wellenlänge