Er musste etwas geschlafen haben, denn als er die Augen wieder aufschlug, stand die Sonne bereits hoch über ihnen am Zenit. Seine Männer waren nicht untätig geblieben. Sie hatten eine behelfsmäßige Behausung gebaut. Franz Berger schritt auf ihn zu, ein kleines Wiesel in der Hand.
Christian rieb sich die Augen. »Wie lange war ich weg?«
»Drei Stunden«, erklärte der deutsche Templer. »Aber wir waren der Meinung, dass du den Schlaf nötig hattest.« Er reichte ihm das Nagetier. Es lebte noch und versuchte sich verzweifelt aus dem unerbittlichen Griff des Tempelritters zu befreien.
Christian nahm es dankbar, aber nicht ohne Widerwillen an. Das arme Tier tat ihm leid. Doch was wäre die Alternative gewesen? Einen Menschen auszusaugen, kam nicht infrage. Auf gar keinen Fall!
Er erinnerte sich mit Schaudern und einem Aufwallen von schlechtem Gewissen daran, wie er das erste Mal menschliches Blut gekostet hatte. Es waren christliche Deserteure des Kreuzfahrerheeres gewesen. Unwürdige, ehrlose Kreaturen, aber nichtsdestoweniger Menschen. Danach hatte er jedoch das Blut unschuldiger Pilger gekostet. Abgeschlachtet hatte er sie, in einer Blutorgie, deren Durst er zum damaligen Zeitpunkt noch nicht einmal verstanden hatte. Getrieben von einer Gier, der er nie wieder erliegen wollte.
Christian nahm all seine Überwindung zusammen und biss in den Körper des Nagetiers. Das Geschöpf quiekte vor Angst und Schmerz. Seine schlanke Gestalt versteifte sich für einen Moment, nur um bereits eine Sekunde später zu erschlaffen.
Christian fühlte das Blut seine Kehle herablaufen. Es war nicht so gehaltvoll und nahrhaft wie Menschenblut. Dennoch spürte er unwillkürlich, wie seine Lebensgeister zurückkehrten. Der Ritter fühlte sich belebt, seine Muskeln wurden nahezu augenblicklich mit neuer Energie gefüllt. Die durch den Pfeil geschlagene Wunde heilte, ohne eine Spur zu hinterlassen.
Er erhob sich und folgte Franz zum Rest der Truppe, die sich unter dem notdürftig gezimmerten Dach aneinanderdrängten, als würde die gegenseitige Nähe irgendeine Art von zusätzlichem Schutz bieten.
Christian lächelte amüsiert. Vampire unterschieden sich im Prinzip nicht viel von Menschen. Natürlich waren sie schneller und stärker. Aber auch sie suchten Schutz in der Gruppe. Auch sie konnten sich einsam fühlen, wenn sie von ihren Freunden getrennt waren. Und auch sie sehnten sich nach dem Trost eines geliebten Menschen.
Christian kauerte sich unter seine versammelten Krieger und gemeinsam warteten sie auf den Einbruch der Nacht.
Er musste erneut eingeschlafen sein. Christian wurde durch einen sanften Stoß gegen die Schulter geweckt. Er schreckte auf. Es herrschte tiefe Dunkelheit. Ein Mensch hätte nicht einmal die Hand vor Augen sehen können. Bei Christian setzte allerdings sofort die Nachtsicht ein. Er wusste, seine Augen glühten jetzt in strahlendem, Unheil verkündendem Gelb.
Christian sah auf. Karl stand neben ihm. »Wie spät?«, wollte er von seinem Freund wissen.
»Eine Stunde nach Einbruch der Nacht. Wir sollten aufbrechen.«
Christian nickte und erhob sich in einer geschmeidigen Bewegung. Seine Templer hatten bereits alles, was sie vom Schiff hatten retten können, zusammengepackt. Er seufzte. Ihre Pferde würden ihnen fehlen, aber schaffen würde sie es auch ohne sie.
»Wie lange bis Nottingham?«, fragte Christian. Seine Worte waren allgemein in die Runde gesprochen, zielten jedoch auf ein bestimmtes Mitglied seiner Truppe.
Matthew Blackthorne wandte sich um. »Für Menschen? Etwa zwei Tagesreisen. Wir sollten es allerdings noch innerhalb dieser Nacht schaffen.«
Christian überlegte. »Falls nicht, brauchen wir einen neuen Unterschlupf. Gibt es etwas auf unserem Weg?«
Matthew schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Wälder sind in diesem Teil Englands weit verbreitet, aber ich kann nicht garantieren, dass wir einen Ort wie diesen hier finden, wo uns das dichte Blätterdach einen gewissen Schutz bietet. Es gibt aber mit Sicherheit Gasthäuser auf unserem Weg. Da könnten wir unterkommen.«
Christian rümpfte die Nase. »Das würde ich eigentlich gern vermeiden. Eine Gruppe wie die unsere erregt zu viel Aufmerksamkeit. Wir halten uns am besten von größeren Menschenansammlungen fern.«
Matthew zuckte die Achseln. »Dann müssen wir uns beeilen, ansonsten wird es knapp.«
Christian bedeutete den Templern mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, und setzte sich gleichzeitig in Bewegung. Die Vampirritter bewegten sich durch die Nacht wie Gespenster. Nahezu unsichtbar. Unberührbar. Lediglich Schatten.
Von den wenigen Menschen, denen sie begegneten, wurden sie gar nicht wahrgenommen, wohl aber von der Tierwelt. Rehe, Vögel, kleine Tiere im Unterholz: Sie alle verfügten über einen Sinn, der den Menschen fehlte. Sie wichen der Panik nahe der Prozession dunkler Gestalten aus, die sich ihnen näherte.
Die Templer im Schatten wären schnell genug gewesen, sie einzuholen und Beute zu machen. Sie verzichteten aber darauf. Sie waren wohlgenährt und hatten anderes im Sinn. Immer weiter drangen Christian und seine Mitstreiter ins Landesinnere von Nordengland vor. Er war noch nie hier gewesen. Nur zu gerne hätte er verweilt, um seine Augen an der wunderschönen Landschaft zu laben. Für derlei Dinge hatte er zu wenig Zeit, seit er sich dem Kampf gegen das Böse verschrieben hatte.
Christian kam schlitternd zum Stehen. Seine Nüstern blähten sich erwartungsvoll. Der schwere, nach Metall duftende Geschmack menschlichen Blutes hing in der Luft, und zwar einer Menge davon.
Seine Templer verteilten sich um ihn. Christian behielt sie gut im Auge. Einige waren noch nicht lange Vampire und bedurften besonderer Führung.
Karl gesellte sich zu ihm. Er warf Christian einen leicht irritierten Blick zu. »Was denkst du? Eine Schlacht?«
Christian war sich nicht sicher. »So hoch im Norden? Wer kämpft hier gegen wen?« Der Vampirritter hob erneut den Kopf und sog den Duft des Blutes tief in seine Lungen. Der Geschmack, der mit einem Mal auf seiner Zunge lag, war beinahe zu verführerisch. Er stoppte sich selbst, bevor er dem Durst erliegen konnte. Auch er war nicht gegen die Verlockungen menschlichen Blutes gefeit.
Aber mit dem Geruch nach Blut schwang noch ein anderer Duft mit. Einen, den er nur zu gut kannte: Angst. In diesem Augenblick wusste er, worauf sie treffen würden. Das hier war kein Schlachtfeld. Es war etwas viel Schrecklicheres.
Er setzte sich langsam in Bewegung und konnte sicher sein, dass seine Vampirtempler ihm bereitwillig folgen würden. Die meisten aus Loyalität und Pflichtbewusstsein. Einige wenige vielleicht, weil das Blut unglaublich verlockend roch.
Nach einer Weile erreichten sie eine kleine Lichtung. Sie erstreckte sich inmitten einer Talmulde, die zu allen Seiten von Feldern und vereinzelten Bäumen gesäumt wurde. Und dort fanden sie den Ausgangspunkt der Fährte, der sie gefolgt waren.
Der Überfall auf das Dorf war schon seit Stunden vorbei. Die Häuser schwelten noch. Braun verkohltes Gebälk ragte unter zerstörten Strohdächern hervor. Und überall lagen Leichen. Christian bewegte sich wie betäubt unter den Überresten des Massakers. Männer, Frauen und Kinder waren mit gleicher grausamer Beiläufigkeit dahingeschlachtet worden.
Dank seiner überragenden Sehkraft nahm Christian jede Einzelheit in sich auf und wünschte zum ersten Mal seit seiner Verwandlung, er hätte diese Fähigkeit nicht besessen. Einige Dorfbewohner hatten versucht, sich zu wehren. Mit Heugabeln und Dreschflegeln hatten sie sich den Schwertern von Soldaten und Rittern in den Weg gestellt.
Christian schüttelte leicht den Kopf. Arme, heldenhafte, bewundernswerte, törichte Narren! Einer seiner Templer fiel vor einer Frau auf die Knie. Die Kleider hingen nur noch in Fetzen am Leib. Sie war geschändet worden, bevor man sie getötet hatte.
Der Vampirtempler entblößte seine Hauer, bereit, sie in das weiche Fleisch der Frau zu schlagen. Karl trat hinter den Mann, riss ihn an der Schulter herum und verpasste diesem einen schallenden Rückhandschlag, der den Ritter zu Boden schickte.
»Wir trinken