Die Frage diente lediglich dazu, das Thema zu wechseln, und Karl wusste das. Der Ritter antwortete trotzdem. »Sind alle unter Deck. Und auch die Verpflegung.«
Christian verzog die Miene und wandte sich um. Seine Augen tasteten behutsam das Deck und das Vorschiff ab. Wo auch immer sein Blick den eines Besatzungsmitglieds kreuzte, da begegnete ihm Misstrauen oder sogar offene Ablehnung. Die Männer fühlten, dass etwas mit ihren Passagieren nicht stimmte, konnten jedoch nicht genau festlegen, worin deren Abnormität bestand.
»Gab es Probleme?«
»Keine, die nicht zu lösen waren.«
Christian wandte sich seinem Freund zu. »Das heißt?«
»Einige aus der Besatzung wunderten sich, warum wir so viele Nagetiere mit uns führen. Und warum sich alle unsere Männer sofort unter Deck verkrochen.«
»Was hast du erwidert?«
»Gar nichts. Der Kapitän ist ein Sympathisant. Er weiß, wer wir sind, und hat seine Leute unter Kontrolle gebracht.«
Christian nickte. »Ausgezeichnet.«
Auf der Treppe, die zum Achterdeck führte, polterte es mit einem Mal und ein Mann in den Sechzigern mit Glatze, aber dafür beeindruckendem Vollbart erschien. Der Mann taumelte ein wenig, was nicht im Seegang begründet schien. Christian konnte dessen Alkoholfahne zehn Meter gegen den Wind riechen.
»Christian«, stellte Karl den Neuankömmling vor, »das ist Jean-Luc Moreau. Kapitän der Windfang.«
Christian trat vor und reichte dem Mann die Hand. Dieser packte sie in erstaunlich festem Griff. Ihre Blicke kreuzten sich. Obwohl der Alkoholpegel im Blut des Kapitäns recht hoch war, blitzten dessen Augen voller Intelligenz und Wachsamkeit. Vielleicht hatte er den Mann zu früh eingeschätzt. In diesem steckte unter Umständen mehr als erwartet.
»Kapitän«, grüßte Christian.
»Monsigneur«, erwiderte der Kapitän und verbeugte sich tief, obwohl das nicht nötig gewesen wäre.
»Wie lange wird die Reise dauern?«, wollte Christian wissen.
»Etwa eine Woche. Je nach Wetterlage.« Der Kapitän bedeutete dem Steuermann, seinen Posten zu verlassen, und übernahm anschließend selbst das Ruder.
Christian runzelte die Stirn und stellte sich neben den Kapitän, der angestrengt die Sterne beobachtete. »Die Reise nach Dover dauert doch keine Woche. Wir müssen nur den Kanal überqueren.«
»Wir fahren nicht nach Dover«, mischte sich Karl ein.
Christian hob eine Augenbraue. »Tatsächlich?«
Der Kapitän nickte. »Euer Freund hat mir erzählt, in welcher Angelegenheit Ihr unterwegs seid. Es ist klüger, außer Sichtweite der Küste zu bleiben, London außer Acht zu lassen und direkt nach Nordengland zu fahren. Die Ankunft so vieler fremder Ritter wird in Dover oder London nicht lange im Verborgenen bleiben. Auf wen auch immer Ihr es abgesehen habt, er wird mit Sicherheit Spione vor Ort in Position gebracht haben.«
»Und da seid Ihr sicher?«, meinte Christian zweifelnd.
»Ich würde es so machen«, entgegnete der Kapitän ungerührt. »Dover und London sind die größten Hauptumschlagplätze für Waren. Es wäre dumm, diese Häfen nicht im Auge zu behalten. Wenn ich Euch direkt nach Nordengland bringe, bleibt Ihr länger unentdeckt. Und Ihr spart Zeit. Der Landweg ist bedeutend gefährlicher und auch komplizierter.«
Christian dachte über die Worte Moreaus nach und musste leider eingestehen, dass sie einiges für sich hatten. Sein Blick richtete sich abermals auf das Vorderdeck. Eine gewisse Besorgnis konnte er nicht verhehlen. »Was ist mit Euren Leuten? Werden die nicht misstrauisch, wenn meine Ritter so lange unter Deck bleiben und nur bei Nacht herauskommen? Von der Verpflegungslage ganz zu schweigen.«
Der Kapitän grinste. »Macht Euch darüber keine Sorgen. Die halte ich schon bei der Stange. Das sind meine Männer. Die tun genau das, was ich ihnen sage.« Der Kapitän drehte am Ruder und änderte leicht die Ausrichtung des Schiffes. »Entspannt Euch und genießt die Seeluft. Ihr seid hier so sicher wie im Schoße Eurer verehrten Frau Mama.«
Kapitel 4
Die Seefahrt erwies sich tatsächlich als ruhig und ereignislos. Beinahe eine Woche fuhren sie außerhalb der Sichtweite der Küste dahin. Lediglich hin und wieder blitzten in der Ferne Lichter einer Küstenfestung oder einer kleineren Stadt auf. Sie kamen jedoch nie nah genug, um Einzelheiten ausmachen zu können. Das spielte Christian gut in die Pläne. Wenn sie nichts ausmachen konnten, dann konnte man das an Land im Gegenzug auch nicht.
Die Templer kamen lediglich nachts an Deck, und auch dann nur kurz und nie in Gruppen, die größer waren als fünf Mann. Unter der Besatzung wurde bereits getuschelt und es machten Gerüchte die Runde. Es war nicht nötig, sie noch zusätzlich zu befeuern.
Christian erhob sich aus seiner Hängematte und streckte sich ausgiebig. Die Nacht brach mal wieder herein. Er ließ den Kopf von einer Seite zur anderen rollen, um die verkrampften Nackenmuskeln zu lockern. Das Ruhen in den Hängematten tat seinem Hals nicht besonders gut.
Er begab sich ins Achterschiff und öffnete dort ein Fenster. Die kühle Brise belebte seine erschöpften Geister. Karl trat zu ihm und legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Schulter.
»Na? Gut geschlafen?«
»Nicht wirklich. Du weißt, ich schlafe nie besonders viel.«
Das war nur ein Teil der Wahrheit. Vampire nutzten die Tagesstunden, um Energien während des Schlafens zu regenerieren. Aber Christian bildete eine Ausnahme. Er schlief nie viel. Die meiste Zeit des Tages verbrachte er mit Grübeln. Es machte ihn eigenbrötlerisch und auch ein wenig einsam. Er konnte jedoch nicht anders. Seit inzwischen zehn Jahren war er ein Vampir, doch er hielt immer noch an seinem früheren menschlichen Dasein fest.
Mehrmals innerhalb der letzten Jahre hätte er beinahe seine Familie in Orléans aufgesucht. Jedes Mal hatte er sich gerade noch zurückhalten können. Was sollte er ihnen sagen? Sie hielten ihn für tot. Und das war auch gut so. Sie würden ihn nicht akzeptieren. Schlimmstenfalls würden sie in ihm ein Wesen der Nacht sehen und versuchen ihn umzubringen. Und eine bösartige Stimme im hintersten Winkel seines Verstandes sagte ihm, dass sie damit auch recht hatten.
Er wandte sich um und musterte die Männer, die ihm auf seinem Kreuzzug gegen das Böse bereitwillig folgten. Sein Blick fiel auf drei Templer, die Karten spielten und dabei ein Fass als Tisch benutzten.
Ein großer, dunkelhaariger, breitschultriger Kerl war ein Landsmann von Christian. Pascal de Gascogne, der Sohn eines kleinen Landadligen in einer abgeschiedenen Provinz. Der Ritter war ein guter Kämpfer, aber auch aufbrausend. Falls er jemals sein Temperament unter Kontrolle brachte, würde er sehr wertvoll für die Templer im Schatten sein.
Pascal hatte sich mit seinem Vater entzweit und war Richard Löwenherz auf den Dritten Kreuzzug gefolgt. Dort hatte er während einer Schlacht ein Haus gestürmt, um zu plündern. Aber statt Reichtümern hatte er ein Nest Vampire vorgefunden, die ihn verwandelten. Er war anschließend mit den Überlebenden des Kreuzzugs nach Europa zurückgekehrt. Während des langen Marsches hatte er sich an seinen nichts ahnenden Kameraden gelabt. Wenn auf der Reise hin und wieder ein Soldat verschwand, so fiel das keinem groß auf. Derartige Verluste wurden quasi einkalkuliert.
Als Christian ihm begegnete, hatte sich der Mann in den Armenvierteln von Toulouse ausgetobt. Christian hätte ihn beinahe getötet. Es war Karl gewesen, der ihn überredet hatte, dem gefallenen Ritter eine Chance zur Rehabilitation zu geben. Von diesem Moment an hatte Karl ihn unter seine Fittiche genommen. Christian behielt Pascal gut im Auge, aber es gab zumindest bisher kaum Grund zur Klage. Der Ritter machte sich recht gut und schien sich auch mit der Versorgung durch Nagetiere – wenn auch mürrisch – abzufinden.
Christian vermutete, Karl sah in dem jungen Ritter ein verzerrtes Abbild seiner selbst. Immerhin war es noch gar nicht lange her, da war Karl von Braunschweig