Sehnsucht. Nataly von Eschstruth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nataly von Eschstruth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711472903
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Papiere nieder, die Heiratsurkunde, der Taufschein, Ebbas Totenschein. Es stimmt alles.

      »Reich mir ihr Kind!«

      Antje legte es in ihren Arm.

      Mit großen, nachtschwarzen Augen schaut ein bildschönes Büblein zu der Großmutter empor.

      Ein Grafenkind – ihr Enkelsohn.

      Die Kranke richtet sich beinah feierlich empor.

      »Schaff alles her, Antje! Hol Ebbas Wiege vom Boden, die Kiste mit der Kinderwäsche! Und vor allen Dingen wärmt Milch für das Kind, warten will ich den kleinen Grafen, bis eine Pflegerin kommt.«

      Als Klaus Raßmussen heimkehrt, ist das stille Heidehaus ein anderes geworden, und sein erst so krankes Weib steht hoch aufgerichtet im Zimmer neben Ebbas Wiege, in der ein Kind schreit.

      Es liegt ein wunderbarer Ausdruck im Auge Friederikes, das sich voll brennender Drohung auf ihren Mann richtet.

      »Du hast einen Brief von Ebba unterschlagen, der an uns beide gerichtet war!« klingt es ihm schrill entgegen.

      Er zuckt zusammen, sein Gesicht wird kreidebleich.

      »Mörder!« klingt es gellend in sein Ohr. »Ebba ist tot!«

      Klaus Raßmussen taumelt einen Schritt zurück und starrt auf die Wiege.

      »Lies!« schrillt es abermals von seines Weibes blassen Lippen, und sie schleudert ihm die Papiere entgegen.

      Der Gutsbesitzer tastet danach und schaut mit gläsernem Blick darauf.

      Ein gurgelnder Laut ringt sich von seinen Lippen.

      Wie ist der große, kräftige Mann so schwach!

      Er sinkt auf einen Stuhl und vergräbt das fahle Gesicht in den schwieligen Händen. Seine breite Brust keucht, leises Stöhnen entringt sich ihr.

      Es bleibt minutenlang still.

      Dann legt sich eine zitternde Hand auf seine Schulter.

      »Möge Gott dir vergeben, was du an deinem eigenen Fleisch und Blut getan hast«, murmelt Frau Friederike, und es scheint Klaus Raßmussen, als stehe die Nemesis neben ihm, um ihn zu richten.

      »Den Toten kannst du nichts Liebes mehr tun, die sind an deines Herzens Härte zerschellt, aber hier ... hier klagt dich ein verwaistes Kind an, und seine Stimme dringt zum Himmel. An ihm magst du sühnen, was du an Ebba und mir gesündigt hast.«

      Er will auffahren, will voll trotzigen Zorns sein Weib in die Schranken weisen und sie daran erinnern, daß seine Tochter eine Landstreicherin geworden sei, die aus freiem Willen dem Elternhaus entflohen war, aber vor seinen Augen liegt ein weißes Blatt Papier – ihr Totenschein. Der deutsche Riese bricht in sich zusammen wie ein geknicktes Rohr und ächzt, ohne die Lippen zu öffnen.

      Wie lieb er seine süße, blonde, kleine Ebba gehabt hatte, das sieht er erst jetzt.

      Aber er ist nicht der Mann dazu, sich vom Schicksal brechen zu lassen.

      Biegen und Beugen für wenige Minuten, aber dann schnellt das zähe Mark und Bein wieder empor und läßt nicht von seiner Art.

      Er erhebt sich, wühlt die Hände in das ergraute Haar und blickt seinem Weib fest in die Augen.

      »Sie hat es so gewollt, Friederike, sie hat geerntet, was sie gesät hat.« Und dann mit einer kurzen Geste nach der Wiege: »Wenn du dir die Last machen willst, den kleinen Ungarn großzuziehen, so tu es, ich lege dir nichts in den Weg.«

      »Er ist unser Enkelsohn, Klaus Raßmussen!«

      Der Alte hebt nur die Schultern, wendet sich, ohne einen Blick nach dem Kind zu tun, und verläßt mit dröhnenden Schritten das Zimmer.

      Eine neue, wunderliche Zeit im Heidehaus.

      Die einst so kranke, elende Frau Raßmussen lebte neu auf, entwickelte eine schier fieberhafte Tätigkeit für ihr Enkelkind, von dem sie mit einer gewissen Feierlichkeit nie anders sprach als »von dem jungen Gräflein«. Sie wartete und pflegte es, daß der Doktor nicht genug den Kopf schütteln und sagen konnte: »Also ein Enkelkind ist das Zaubermittelchen gewesen, das Ihnen wieder auf die Füße geholfen hat! Ja, hätte ich das gewußt, wäre es ja ganz unnötig gewesen, die teuere Kinderfrau aus der Stadt zu verschreiben!«

      Frau Friederike sah den Sprecher fast vorwurfsvoll an und sagte: »Für den Hubert kann gar nicht genug Bedienung sein! Was wäre für Ebbas Kind zu teuer oder überflüssig? Gott sei gelobt, daß er so prächtig gedeiht!«

      »Schade, daß er der Mutter so gar nicht ähnelt«, bedauerte der Doktor, »der Junge scheint aufs Jota das genaue Ebenbild des Vaters zu sein. Wär’s anders, würde es Klaus Raßmussen lieber sein.«

      Frau Friederike krauste die Stirn. »Würde wohl kaum etwas ändern. Recht angeschaut hat er den Großsohn noch nicht ein einziges Mal. Nun, und ich denke wiederum, es ist schön, wenn der Kleine ein echtes Grafenblut hat und ein edler Giöreczy ist. Das wird ihm auch in Deutschland zustatten kommen.«

      So stolz die Großmutter auf ihr Enkelkind war, so völlig fremd und gleichgültig hielt sich ihm Klaus Raßmussen fern. Für ihn blieb das Kind ein fremdartiges Kuckucksei, welches ihm ein nobler Landstreicher in das Nest gelegt hatte. Die Pflege und Erziehung überließ er ganz seiner Frau, und weil Friederike sich lieber umgebracht hätte, als ihrem kleinen Abgott einen Wunsch zu versagen oder gar seine Liebhabereien zu unterbinden, so wuchs Hubert Giöreczy in ungezügelter Freiheit heran, wild und keck, voll jauchzenden Übermuts, schön wie ein junger Adler unter Krähen, wenn er die Kinder der Bediensteten in seinen tollen Spielen kommandierte.

      »Man sieht ihm den edlen Grafensproß schon auf hundert Schritt an«, lächelte Frau Friederike stolz, und selbst Klaus Raßmussen stand oft heimlich hinter einem Erlenbusch und beobachtete scharfen Blickes, was sich für ein hochgemuter Prachtkerl aus dem schwarzäugigen Büblein entwickelte. Ja, er zuckte nur mit leisem Knurren die Schultern, wenn aus dem Dorf die Klagen kamen, daß der Hubert wieder die besten Katzen und Hunde erschossen oder die höchsten Obstbäume erstiegen und geplündert habe. Er schalt nicht, sondern zog schweigend die Börse und zahlte; ja er wurde nicht einmal zornig, wenn das sechsjährige Bürschlein die Pferde bestieg und voll tollkühnen Wagemuts über die Heide galoppierte; immer sicherer, immer gewandter und strammer meisterte er die Pferde, und Klaus Raßmussen streifte sein begeistertes Weib nur mit einem spöttischen Blick und sagte: »Wundert’s dich? Vergißt du, was sein Vater war?«

      Dennoch stand er heimlich und sah zu, und in seinem Auge blitzte es auf wie Genugtuung.

      Hubert Giöreczy war ein absonderliches Kind. Tagsüber wild und toll wie ein kleiner Bandit, und wenn es Abend wurde und sich das flache Land in roten Lichtfluten badete, dann saß er oft still und sinnend auf demselben Wegrain unter den Heckenrosen wie ehemals die Mutter und schaute hinauf in den klaren, tiefen, hohen Himmel und folgte mit sehnsüchtigem Blick den Lerchen, die emporstiegen auf leichten Flügeln und die die einzigen waren, denen er nicht folgen konnte in die fremde, blaue Wunderwelt über den Sternen

      Eine Leidenschaft von ihm war es, Papierdrachen steigen zu lassen.

      Dann konnte er voll endloser Geduld die dicksten Rollen Bindfaden abwickeln und sein buntes Vöglein hinaufsteigen lassen in azurblaue Fernen, hoch und immer höher, bis er es kaum noch sah und sein Herz in heißer Sehnsucht erglühte. »Ach, könntest du folgen! Könntest du dir auch Flügel schaffen, um jene Ferne zu erreichen, um einmal herabzuschauen vom Himmel auf die Erde!«

      Was Hubert vormachte, ahmten die Kinder der Knechte und Arbeiter aus dem Dorf voll respektvollen Interesses nach.

      Da versammelten sich die flachshaarigen Burschen und Dirnlein und hatten sich auch Papierdrachen geklebt und von den Eltern den Faden erbettelt, und nun gab es einen Jubel und Wettstreit, welcher »Flieger« am höchsten stieg.

      Mit glühenden Wangen und bitzenden nachtschwarzen Augen stand Hubert inmitten der Schar, als kleiner König sie befehligend, fremd, eigenartig, selber wie ein »Findling«, der vom Himmel schon oft auf die Heide niedergefallen war.