Ich nicke und wische mir die Tränen aus den Augenwinkeln.
„Da habe ich ihn gesehen. Spät am Abend bei mir auf dem Stockwerk. Ich wollte noch kurz in die Küche und er stand auf dem Flur. Er hat mich nicht erkannt, glaube ich, aber er sah ziemlich fertig aus.“
Ich verziehe das Gesicht.
„Klar sah er fertig aus, hat sich bestimmt total verausgabt.“
„Blödsinn, doch nicht so fertig. Fertig im Sinne von Mir geht´s nicht gut.“
Sie drückt meine Hand.
„Summer, ehrlich, ich sage das jetzt nicht, weil du meine Freundin bist und ich will, dass es dir besser geht, sondern weil es so war. Er sah echt richtig scheiße aus. Wie jemand, dem gerade aufgegangen ist, dass er einen Riesenfehler gemacht hat.“
Ich zucke mit den Schultern.
„Das kann sein. Sagt er selbst ja auch. Aber es ändert doch nichts, oder?“
Jessica nimmt einen Schluck aus ihrer Tasse.
„Also, ich finde, es ändert schon was. Ich will ihn nicht in Schutz nehmen, das war nicht okay, was er gemacht hat. Und ich glaube, das weiß er auch ziemlich gut. Aber na ja, sieh mal, vielleicht ist das alles für ihn auch nicht ganz einfach. Ich meine, er war vielleicht noch nie verliebt und ist durcheinander. Und Jungs reagieren dann halt anders als Mädchen. Also, ach, du weißt doch, was ich meine. Ich will damit nur sagen: Wenn du ihn gernhast - und ich glaube, das hast du - dann solltest du ihn nicht ganz abschießen. Gib ihm eine Chance, hm?“
Sie hebt die Hand und streicht mir eine Träne von der Wange.
„Mann, dir geht’s mies, du vermisst ihn, das kann´s doch jetzt nicht gewesen sein, oder? Gib dir einen Ruck, Summer, komm schon.“
Sie sieht mich auffordernd an.
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, murmele ich.
„Denk wenigstens drüber nach. Ich gehe auch zu ihm und trete ihm für dich in den Arsch, wenn du das willst. Drohe ihm mit meinem großen Bruder, der ist Kickboxer. Wenn er also noch mal auf dumme Ideen kommt, dann rufe ich Marcus an, der kann ihn mal besuchen.“
Sie zwinkert mir zu und ich muss schmunzeln.
„Das würdest du tun? Danke, das ist lieb.“
Ich schaue nach draußen. Dort hinten am See steht „unsere“ Bank. Wir haben schon oft dort gesessen, Danny und ich. Geredet oder einfach nur geschwiegen.
„Findest du, ich reagiere über?“, frage ich leise.
„Nein, finde ich nicht. Summer, du bist verletzt und das wäre ich auch. Da hilft es auch nichts, wenn du sagst: Ach, wir sind ja nicht mal richtig zusammen, und eigentlich kann er ja machen, was er will. Natürlich tut es weh, wenn Danny so einen Scheiß abzieht und es so aussieht, als sei ihm nicht wichtig, was zwischen euch ist. Aber ich glaube, das stimmt nicht. Es ist ihm wichtig. Und ehrlich gesagt, ich glaube ihm, wenn er sagt, es tut ihm leid und er will es wiedergutmachen. Denn warum sollte er das sagen, wenn es nicht so wäre? Dann wäre doch jetzt die beste Gelegenheit für ihn, die Sache abzuhaken. Aber das will er ja offenbar nicht.“
Ich umfasse mein Glas mit beiden Händen. Der Kaffee ist kalt geworden. Jessica hat recht mit dem, was sie sagt. Ich glaube auch, dass Danny es ernst meint. Trotzdem bin ich im Moment so voller Angst, dass ich nicht kann. Ständig sehe ich meine Mutter vor mir. Meinen Vater. Ich träume jede Nacht von ihnen, verliere mich in einem Labyrinth aus Rauch.
„Du hast recht. Ich werde darüber nachdenken“, sage ich leise, denn es ist alles, was ich im Moment tun kann.
„Okay. Das ist ein Anfang. Schau, da ist Jake.“
Jessicas Augen leuchten auf, als er auf unseren Tisch zukommt.
„Hey. Darf ich?“
Er setzt sich und ich senke den Kopf. Er soll nicht sehen, dass ich geweint habe. Ich habe ihm nichts von Danny und mir erzählt und das soll auch so bleiben. Ich werfe Jessica einen beschwörenden Blick zu, den sie aber nicht erwidert, weil sie die ganze Zeit Jake ansieht.
Die beiden unterhalten sich und ich beteilige mich nur sporadisch an dem Gespräch. Erst als Jessica sich erhebt, um zur Toilette zu gehen, wendet Jake sich an mich.
„Sag mal, gehst du mir absichtlich aus dem Weg?“
„Nein, warum?“
„Ja, keine Ahnung. Ich sehe dich kaum noch, nie hast du Zeit. Nimmt Moreno dich so in Beschlag?“
Er sieht mich missmutig an.
„Nein, tut er nicht.“
Ich weiche seinem Blick aus.
„Oh, gibt’s etwa Ärger im Paradies?“
Ich verziehe das Gesicht.
„Jake, was willst du? Mich nerven? Lass es, okay?“
„Schon gut. Sorry. Ist alles in Ordnung mit dir?“
Seine Stimme klingt weicher, er beugt sich vor und sieht mich an.
„Es geht.“
Er fasst nach meiner Hand.
„Wollen wir uns heute Abend treffen? Mal wieder zusammen abhängen?“
„Gern.“
Ich lächele ihm zu. Er fehlt mir.
„Okay, ich freu mich.“
Nachdem Jessica zurück ist, packen wir zusammen und verlassen das Café. Jess verabschiedet sich von uns und ich stehe mit Jake allein da.
„Hast du noch kurz Zeit? Wir könnten zum See gehen?“, fragt er.
Ich nicke und laufe neben ihm her. Er mustert mich forschend.
„Geht’s dir nicht gut? Ich habe gehört, du warst krank?“
„Mhm, ja. Es geht.“
Ich fühle mich mies, ihn anzulügen, aber was soll ich ihm sagen? Er würde nicht verstehen, dass ich trotz allem immer noch so an Danny hänge. Ich kann mir das ja selbst kaum erklären, denn so bin ich nicht. Gerade ich nicht. Ich habe so viele schlimme Szenen miterlebt als Kind und Teenager. So viele demütigende Szenen zwischen meinen Eltern. Ich bin viel zu verunsichert, was Gefühle anbelangt, als dass ich ein Risiko eingehen würde. Und obwohl Danny schon längst ein Risiko für mein Herz ist, hat er mich fest am Haken. Ich seufze frustriert.
„Setzen wir uns?“
Jake zeigt ausgerechnet auf diese eine Bank. Wir nehmen Platz und ich blicke übers Wasser. Es ist schön hier. Friedlich. Plötzlich vermisse ich Danny so sehr, dass mir die Tränen kommen. Jake sieht mich von der Seite an, dann legt er den Arm um mich und zieht mich an sich.
„Was ist los? Willst du drüber reden?“
Ich schüttele stumm den Kopf.
„Okay. Du weißt, wo du mich findest.“
„Ich weiß. Tut mir leid.“
Er drückt mir einen Kuss auf den Scheitel.
„Schon gut. Ich kann mir sowieso denken, was, beziehungsweise mit wem, was los ist. Wenn du nicht drüber reden willst, gibt’s nicht viele Möglichkeiten.“
Ich wische mir mit dem Ärmel über die Augen. Klar, Jake ist nicht blöd und er kennt mich gut. Irgendwann werde ich es ihm vielleicht erzählen, aber nicht jetzt.
Wir sitzen noch eine Weile, unterhalten uns über unverfängliche Themen, bis wir zurückmüssen.
„Danke.