Blutstaub - Roland Benito-Krimi 9. Inger Gammelgaard Madsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Inger Gammelgaard Madsen
Издательство: Bookwire
Серия: Ronaldo Benito
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711650127
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ist das da im Schatten, die stillt?“

      Samanta schaute zu der Frau und bekam einen bekümmerten Gesichtsausdruck.

      „Das ist eine Frau, die hier im Lager entbunden hat. Sie ist hochschwanger vor den Kämpfen zwischen Regierungstruppen und lokalen Milizen im Südsudan geflohen. Wir mussten sie herüberbringen, damit sie in Sicherheit ist. Sie hat einen Albino zur Welt gebracht.

      „Kriegen Afrikaner auch Albinokinder?“, rief Silje naiv aus.

      „Hier werden mehr Albinos geboren als in Dänemark, wo es eins von 60.000 Kindern ist. Hier in Afrika ist es eins von 5.000 Kindern und das ist eine Katastrophe für das Kind und seine Familie, ja, für das ganze Dorf. Viele Albinos leben im Verborgenen, sonst werden sie verfolgt oder schlicht getötet. Das Fürchterliche ist, dass es hier immer noch Menschen gibt, die glauben, dass eine Mixtur, bestehend aus Kräutern und dem Blut oder den Körperteilen eines Albinos, heilen kann oder den, der diese Mixtur einnimmt, reich macht, deshalb jagen und töten Medizinmänner die Albinos.“

      Silje schwitzte noch mehr und wünschte, sie könnte irgendwohin gehen und frische Luft schnappen. „Was passiert dann mit der Frau und dem Kind?“

      „Vorläufig bleiben sie hier, wo wir sie im Auge behalten können. Woanders ist es nicht sicher für sie.“

      Sie hatten ein anderes Haus erreicht, das in Verlängerung des gelben Gebäudes lag.

      „Dahinter ist die Küche“, fuhr Samanta fort, und lächelte einer Frau zu, deren schwarzes, glänzendes Gesicht sich im Fenster zeigte. Sie winkte.

      „Das ist Farsiris, unsere Köchin. Sie sagt, der Name bedeute in ihrer Muttersprache Prinzessin. Wir Dänen ziehen sie damit auf, dass fars bei uns auf Dänisch Hackfleisch heißt und fars i ris mehr wie ein dänisches Reisgericht klingt - was besser passt, weil sie ja Köchin und keine Prinzessin ist.“ Samanta lachte und winkte der Frau zurück.

      „Du sagst wir? Gibt es hier noch andere Dänen?“, stellte sich Silje unwissend und winkte der Köchin im Fenster ebenfalls.

      „Ja, einer der Ärzte ist Däne. Er hat übrigens die gleiche ungewöhnlich blaue Augenfarbe wie du. Das war das, was mir Faheem zugeflüstert hat. Sie nennen ihn Sämay, weil seine Augen die gleiche klare, blaue Farbe haben wir der Himmel. Das bedeutet Himmel auf Amharisch.“

      Siljes Herz pochte bis zum Hals. Das war ganz sicher ihr Vater, den sie Sämay nannten. Sie hatte ihn gefunden.

      5

      Es tat in den Augen weh, als sie versuchte, sie zu öffnen. Als ob ein Daumen tief in jedes Lid und hinter die Augäpfel gedrückt würde, um sie herauszupressen.

      Der Schlaf hatte Anne Larsen noch nicht ganz losgelassen. Sie steckte immer noch im Traum fest, der sich zu einem wahren Albtraum entwickelt hatte, wo sie um ihr Leben rannte, barfuß über eine Straße aus schwarzem, rauem Asphalt, voller Scherben von zerbrochenen Flaschen. Langsam gelang es ihr, die Augen zu öffnen, die sofort von der Sonne geblendet wurden, die durch einen Spalt im Vorhang hereinfiel. Ein weiterer Stich jagte durch ihren Kopf und sie schloss die Augen sofort wieder. Sie murmelte und schmatzte ein wenig. Der Mund war so trocken, dass die Zunge am Gaumen festklebte. Der Schweiß lief zwischen den Brüsten zum Bauch hinunter. Sie lag auf einem ihrer Arme, er war ganz gefühllos. Der andere ruhte auf etwas Warmem und Weichem. Der Tag drängte sich auf. Oder eher der Tag danach. Die Hirnzellen begannen zu funktionieren, als ob sie eine nach der anderen angingen. Sie hatten Pfingstsamstag gefeiert und waren sich einig gewesen, dass die Pfingstsonne Cancan tanzen sollte. Waren von Kneipe zu Kneipe und von Bar zu Bar gezogen. Sie erinnerte sich an nicht viel ab dem Zeitpunkt, als sie von irgendwo ein Taxi nach Hause genommen hatten.

      Ein Murmeln, das nicht ihr eigenes war, ertönte neben ihr. Sie öffnete die Augen erneut, kam jäh aus der Rekonstruktion der Nacht und hörte ihr eigenes Japsen, als sie ihre Hand von der nackten, runden Brust wegzog. Es wäre nicht so seltsam gewesen, wenn sie einen fremden Mann aus der Stadt mit nach Hause gebracht hätte, aber eine Frau! Die andere im Bett drehte ihr im Schlaf das Gesicht zu und murmelte wieder. Es war Sabina. Aber wieso lag sie hier fast nackt in ihrem Bett? Anne erinnerte sich an eine warme und weiche Zunge, nasse Küsse und Hände unter der Bluse, aber war das nicht irgendein Typ irgendwo auf einer Tanzfläche gewesen? Sie hatte viel ausprobiert, aber das nicht. Nicht mit einer Frau, obwohl Esben es oft vorgeschlagen hatte. Damals, als er ein Teil ihres Sexlebens war.

      Sie schwang die Beine über die Bettkante, setzte sich auf und griff sich an den Kopf, der noch mehr pochte. Mit der Hand, die nicht erwachend kribbelte, kramte sie die Zigarettenschachtel aus dem Nachttisch, schüttelte eine Zigarette heraus und zündete sie an. Inhalierte tief ein. Den Rauch ließ sie zusammen mit einem tiefen Seufzer des Wohlbefindens aus dem offenen Mund weichen. Diese Zigarette brauchte sie, sie nahm auch den bitteren Geschmack im Mund in Kauf. Nach einem weiteren Zug betrachtete sie Sabina. Sie schlief immer noch. Das dunkle Goth-Make-up war in ihrem ganzen Gesicht verwischt wie Aquarellfarben auf nassem Papier. Es hatte einen Abdruck auf dem weißen Kopfkissenbezug hinterlassen. Anne lächelte. Sie freute sich für ihre Stiefschwester. Kurz vor Pfingsten hatte sie die Nachricht von der Journalistenhochschule wegen ihrer Aufnahmeprüfung bekommen und war Ende Mai zum Gespräch eingeladen. Es sprach vieles dafür, dass sie das Glück hatte, angenommen zu werden. Sie würde vielleicht die Journalistenausbildung bekommen, die Anne selbst nie erhalten hatte, weil sie einfach nicht still auf einer Schulbank sitzen konnte und Schulen immer gehasst hatte. Normalerweise lebte Sabina auf Nørrebro in Kopenhagen. Wegen des Gesprächs bei der Journalistenhochschule wohnte sie zurzeit bei einem ihrer Green-peace-Facebook-Freunde. Anne hatte gesagt, dass sie in ihrer kleinen Wohnung keinen Platz habe, was stimmte, also warum war Sabina hier? In Wirklichkeit war Anne nicht begeistert über den Besuch gewesen, als Sabina in der Woche vor Pfingsten an ihrer Tür geklingelt hatte. Sie hatte Angst vor dem Gerede ihrer Stiefschwester darüber, ihren Vater zu töten. Hauptsächlich weil sie sich selbst versucht fühlte, es zu tun und drauf und dran gewesen war, bei einem von Sabinas mörderischen Plänen mitzumachen. Ihr Stiefvater war letztes Jahr auf Bewährung entlassen worden, hatte aber trotz allem nicht versucht, sie aufzusuchen. Auch Sabina nicht. Keine von ihnen wusste, wo er sich aufhielt. Sie fürchtete ihn nicht länger. Nicht auf die Art. Sie war erwachsen geworden und hatte mehr Selbstvertrauen bekommen. Er konnte sie nicht länger knechten. Meinte sie. Sabina dagegen fiele es weniger leicht, sich zu wehren. Sie war nur ein großes Kind. Anne hatte Lust, ihr über die Wange zu streichen und sie in dem unruhigen Schlaf zu beruhigen. Sie zuckte und murmelte etwas Unverständliches mit zusammengezogenen Brauen, als wäre sie wütend. Oder verängstigt. Vielleicht träumte sie von ihm. Das ungewohnte Gefühl von Zärtlichkeit für dieses Mädchen erschreckte sie. Sie war trotz allem nicht ihre biologische Schwester, sondern eine Fremde, mit der sie am liebsten nichts zu tun haben wollte. Ein Gespenst aus der Vergangenheit, an der sie arbeitete, sie zu vergessen. Sie drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, stand auf und taumelte ins Bad. Die eine Hand stützend am Kopf, die andere am Türrahmen. So stand sie ein bisschen, bis der Arm nicht mehr kribbelte, und plante die nächsten Schritte. Zuerst eine Handvoll Kopfschmerztabletten, dann eine kalte Dusche, dann war sie garantiert wieder klar.

      Als sie den Duschhahn zudrehte, hörte sie schwach die Melodie ihres Handys, die versuchte, durch die geschlossene Badezimmertür zu dringen. Hastig riss sie das Handtuch von der Handtuchstange und bedeckte ihren nassen Körper, als die Tür aufsprang und Sabina unbekleidet eintrat und ihr das Handy reichte.

      „Das ist eine Fotografin“, sagte sie, wegen der Kippe im Mundwinkel nuschelnd.

      „Was zum Teufel bildest du dir ein, einfach so reinzuplatzen?!“

      „Ach, man hat wohl Komplexe“, meinte Sabina mit einem kleinen, gekräuselten Lächeln. „Aber ganz ruhig, Ann. Du bist wie alle anderen Mädchen gebaut. Jetzt nimm das Telefon.“

      Anne schnappte es ihr grimmig aus der Hand.

      „Du sollst auch verdammt noch mal nicht an mein Telefon gehen. Außerdem heiße ich Anne! Mach die Tür zu!“, rief sie ihr nach. Sie hasste es, Ann genannt zu werden.

      Es war Ninna, die anrief und kurz mitteilte, dass sie zu