Alem war ein Mann weniger Worte. Nachdem er ihr erzählt hatte, dass er Fahrer, eine Art Mädchen für alles im Lager und in einem kleinen Dorf in Äthiopien aufgewachsen war, sagte er nicht mehr besonders viel. Er konzentrierte sich auf die Fahrt, was auch notwendig war. Sie klammerte sich an den Sicherheitsgurt, wenn das Auto in hohem Tempo heftige Kurven fuhr, um den größten Schlaglöchern im Weg auszuweichen. Die Sonne brannte unbarmherzig. Hier hatte es lange nicht geregnet. Die große Regenzeit sollte bald kommen, aber der Himmel zeigte noch keinerlei Anzeichen dafür. Das Einzige, was sie zu allen Seiten sehen konnte, waren rote Erde und vereinzelte Bäume, verkrüppelt in dem eisenhaltigen, trockenen Untergrund. Bläuliche Berge unterbrachen das flache Terrain am Horizont. Am Straßenrand liefen Afrikaner in staubigen Gewändern und trieben Ziegen, magere Kühe und Esel vor sich her. Es waren auch ein paar Kinder dabei, die nackten Beine voller Dreck. Die Babys waren mit einem Tuch bei ihren Müttern auf den Rücken gebunden und sahen ziemlich eingezwängt aus. Die meisten Frauen trugen lange, farbenfrohe Kleider. Einige winkten Alem zu, der lächelnd zurückwinkte. Eine Kinderschar lief hinter dem Auto her. Sie kannten sicher alle das rote Logo von Ärzte ohne Grenzen. Silje drehte sich um und sah durch die Heckscheibe die Kinder, die riefen und lachten und rannten, so schnell sie konnten, selbst die Kleinsten.
„Great kids“, sagte Alem und lächelte ein bisschen wehmütig.
Sie bogen plötzlich ein, vor ein gelbverputztes Gebäude mit blau bemalten Sparren und schwedenroten Balken, die ein Halbdach trugen, unter das vor einer langen Reihe Gitterfenster eine Wäscheleine gezogen war. Einige Jacken und Handtücher hingen zum Trocknen in der Sonne. Sie riss die Augen auf, als Alem neben einer Karre mit einem Esel davor parkte. Ein älterer, sehniger Einheimischer mit weißen, krausen Haaren half einer Frau, einige blaue Behälter von dem Karren herunterzuheben. Die Arbeit wurde genau verfolgt von einem kleinen, mageren Jungen, der sich dicht an den Alten hielt. Die Frau sah auf und schirmte die Augen vor der Sonne ab, dann lächelte sie, stellte einen Behälter auf die rote Erde und kam ihr entgegen.
„Du musst die neue Mitarbeiterin sein“, sagte sie.
Silje schob die Sonnenbrille in die Haare. „Ja, ich heiße Silje. Silje Vuong“, antwortete sie, erleichtert darüber, dass es noch andere Dänen im Lager gab. Außer ihm, natürlich. Es war lange her, dass sie Englisch gesprochen hatte.
„Ich habe erwartet, eine Asiatin zu sehen … bei dem Namen“, lächelte die Frau. „Samanta Lund. Ich bin Krankenschwester. Ich will dir gerade lieber nicht die Hand geben …“ Sie zeigte beide Hände vor, die von der staubigen Erde rot waren.
Sie wirkte gar nicht wie eine Dänin mit den dunklen Haaren und den lächelnden, braunen Augen, aber Silje meinte, einen seeländischen Akzent zu hören.
„Mein Mann ist Vietnamese“, erklärte sie. „Was macht ihr da?“, fragte sie und lächelte dem Jungen zu, der sie mit großen, dunklen Augen anstarrte.
„In den Behältern ist Wasser. Wir haben leider kein fließend Wasser und bekommen es mehrmals am Tag geliefert“, erläuterte Samanta. „Ja, es gibt vieles, an das du dich hier gewöhnen musst“, fügte sie mit einem Ton hinzu, der nach bitterer Erfahrung klang.
Der Junge folgte dem alten Mann, der einen Behälter in ein Gebäude dem Haus gegenüber schleppte.
„Das ist Faheem“, sagte Samanta, die ihrem Blick gefolgt war. „Sie kommen beide aus einem der Dörfer in der Nähe.“
„Wie alt ist er?“
Samanta zuckte die Schultern und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. Sie nahm einen Lappen von der Wäscheleine und trocknete die Hände ab.
„So, jetzt kann ich dich anständig begrüßen“, meinte sie, und gab ihr die Hand. Sie sah wieder zu dem Jungen. „Ich schätze, er ist ungefähr sieben, vielleicht acht. Aber das weiß er nicht mal selbst. Beide Eltern sind tot, er hat nur seinen Opa.“
Der Junge schaute die ganze Zeit zu Silje. Er war so mager, dass die Kniescheiben viel zu groß für die kleinen, dünnen Beine aussahen. Plötzlich lief er zu Samanta hin und flüsterte ihr etwas zu. Sie beugte sich vor, um es zu hören, lächelte und sagte etwas zu ihm in einer fremden Sprache, von der Silje dachte, es müsste Amharisch sein. Die Worte ließen den Jungen verlegen lächeln, dann lief er zu dem Esel und dem Karren, wo der alte Mann zahnlos grinste.
„Was hat er gesagt?“, fragte Silje neugierig.
Samanta steckte die Hände in die Taschen ihrer Shorts.
„Nichts Wichtiges. Komm, ich zeig’ dir das Lager.“
„Wo sind die ganzen Flüchtlinge?“
„Das Flüchtlingslager ist ein Stückchen weg von hier, aber das wird jetzt sukzessive geräumt.“
Silje folgte Samanta und sammelte die Eindrücke, Gerüche und Geräusche. Wie wohl die Nachtgeräusche klangen? Das hier würde eine Weile ihr neues Zuhause sein, es war alles so unwirklich und so weit von der von einem Architekten entworfenen Villa in Skåde und dem schönen, grünen Garten weg. Sie vermisste das. Und Anya. Und Tao. Er hatte sie widerwillig bei diesem Projekt unterstützt. Er wusste nicht, dass sie hier war, um nach ihrem Spendervater zu suchen. Er glaubte, sie sei ihrer Arbeit wegen gereist. Sie hasste es, ihn zu belügen, aber sonst hätte er es ihr nie erlaubt.
Samanta blieb bei einem Schuppen stehen, dessen Tür offen stand. Drinnen surrten die Fliegen.
„Das hier sind die Toiletten. Kein Luxus, wie du siehst. Du hockst dich über das Erdloch da; immerhin gibt es Klopapier.“
Silje schluckte schwer und versuchte einen Gesichtsausdruck von Ekel zu bekämpfen, den sie kommen spürte. Wenn Tao das hier sähe! Samanta ging zu einem anderen Schuppen direkt nebenan und gestikulierte elegant, als ob sie eine Suite im Hotel Hilton präsentierte.
„Und hier hast du das Badezimmer. Es gibt, wie gesagt, kein fließendes Wasser, daher benutzt du einfach die Kanne.“ Sie deutete auf eine Zinkkanne neben einem der blauen Plastikbehälter, die sauberes Wasser enthielten. „Wenn du warmes Wasser haben willst, musst du es in der Küche auf dem Herd kochen. Aber jetzt sollst du dein Büro sehen.“
Silje riss wieder die Augen auf, als sie einen Raum betraten, den Samanta Büro genannt hatte. Dort stand nur ein kleiner Klapptisch mit einem Laptop und einem altmodischen Tintenstrahldrucker. Der Stuhl war von der Sorte, wie man sie in alten Schulen sieht. Hier war es sicher gut, dass die Gewerbeaufsicht nicht mal vorbeischaute.
„In den Ordnern unterm Tisch findest du diverse Papiere mit Gehaltsabrechnungen und eine Angestelltenkartei. Es gibt WLAN, aber es ist sehr langsam. Die Elektrizität, die Internetverbindung und das Telefonnetz sind leider nicht besonders stabil. Wir waren gerade erst ganze vierundzwanzig Stunden ohne Verbindung. Der Stromgenerator wird für das lebenswichtige Medikamentenlager verwendet. Da darf es nie mehr als 25 Grad warm sein. Wenn wir mehr Strom brauchen, muss er in der Hauptstadt gekauft werden, die Stromgesellschaft muss anfangen zu arbeiten. Es ist fast hoffnungslos.“ Samanta schüttelte resigniert den Kopf.
Das Zimmer, in dem sie wohnen sollte, war auch sehr spärlich möbliert mit einem Tisch, einem Stuhl und einem Bambusbett, mit Netzen umwickelt, um die Insekten abzuhalten. An der Decke hing eine einzelne Glühbirne in ihrer verstaubten Fassung. Die gelb getünchten Wände waren ohne jegliche Dekoration und der Boden ähnelte gestampftem, rotem Lehm. Silje tröstete sich damit, dass sie hier sicher nur zu schlafen brauchte.
Sie umrundeten das gelbe Gebäude und kamen auf einen Hof dahinter. Hier standen Holzstühle und -bänke auf einer Terrasse mit Halbdach, primitiv gebaut aus Dachplatten auf Holzpfählen. Mitten im Hof wuchs ein riesiger Mangobaum mit Zweigen, die sich unter der Last der Früchte bogen. Auf einer Holzbank im Schatten saß eine Frau und stillte ein Kind, ganz in Tücher eingehüllt,