„Wurden die Nachbarn verhört?“, fragte er Niels Nyborg, der sich gerade mit dem Rücken zu ihm aufrichtete. Der Beamte drehte sich um und guckte ihn mit offenem Mund an. Nase und Augen liefen in dem angeschwollenen Gesicht um die Wette.
„Nein, noch nicht.“
„Mach es jetzt, solange du hier bist und es eventuellen Zeugen in frischer Erinnerung ist. Die meisten sind sicher zu Hause an einem Pfingsttag. Wir müssen auch klären, wo sich Zuzanna Johansen gestern Abend aufgehalten hat und mit wem sie zusammen war.“
Anker Dahl eilte hinaus. Er hatte den Plan, ins Polizeipräsidium zu fahren und zu arbeiten, jetzt, da er eine Chance hatte, dem Familientreffen zu entkommen, das sich wie eine Pflicht anfühlte für die paar Gäste, die für Hering und Schnaps angerückt waren. Und sie fühlten sich Ann-Marie und Robin verpflichtet. Nicht ihm.
Er blieb vor dem Haus hinter dem leicht flatternden Absperrband stehen und betrachtete das offene Fenster zu der Wohnung, die im Erdgeschoss lag. Die Lundbyesgade war eine ruhige Straße. Besonders an Pfingsten. Keine Menschenseele war zu sehen. Viele hatten sicher die Pfingstsonne tanzen gesehen und er befürchtete, dass es schwer werden könnte, nüchterne, glaubwürdige Zeugen zu finden.
Während er in der Sonne stand, sah er die Katze sich nähern. Ganz weiß und den Schwanz hochgereckt. Sie saß einen Augenblick lang unterm Fenster und schaute nach oben. Sie trug ein Halsband. Anker Dahl ging zu ihr. Sie wirkte zahm und miaute. War ihretwegen das Fenster offen? Konnte sie wirklich hoch- und hineinspringen? Vielleicht, wenn sie den Stromkasten oder das abgestellte Fahrrad als Sprungbrett benutzte. Was würde sie erzählen können?
Er setzte sich auf die Treppenstufe und versuchte, sie zu sich zu locken. Er war kein Katzenliebhaber, streckte aber dennoch die Hand aus, um ihr übers Fell zu streichen, doch die Katze wich nervös zurück. Nun war es so, dass es tatsächlich die Katzen waren, die ihn nicht liebten, musste er erkennen; was genau sie an ihm nicht leiden konnten, wusste er nicht. Vielleicht war es sein Geruch, vielleicht der bohrende Blick, vor dem auch alle anderen Respekt hatten. Er konnte die Techniker drinnen in der Wohnung rumoren hören, sicher war es das, was die Katze am Hochspringen hinderte. Er nutzte ihre Unaufmerksamkeit, warf sich nach vorn, erwischte sie und hielt sie fest. Kitto hieß sie. Das stand auf der runden Katzenmarke, die am Halsband befestigt war mit einer eingravierten Pfote auf der Vorderseite. Die Adresse passte. Das Erste, was er bemerke war, dass ihr Fell schwach nach Parfum duftete. Die Katze zappelte und zerkratzte seine Hände und Arme, dann spürte er etwas im Rückenfell der Katze an seinen Fingern kleben. Als er sich vorstellte, was es sein könnte, ließ er sie angewidert runter. Kitto sah scheu zu ihm auf, als er ihr obendrein einen Schubs mit dem Fuß gab, um sie zum Verschwinden zu bringen. Sie spurtete weg und verschwand unter einem geparkten Auto. Dann realisierte er, was das an seinen Fingern und der hellen Windjacke war. Es war Blut.
3
„Doch nicht den Schlips, Kurt!“ Eves Stimme klang vorwurfsvoll.
„Welchen dann?“ Kurt Olsen zerrte vor dem Badezimmerspiegel grimmig seine Lieblingskrawatte vom Hemdkragen.
„Den, den du von mir zum Vatertag geschenkt gekriegt hast zum Beispiel.“
Sie stellte sich neben ihn an das Doppelwaschbecken und musterte zufrieden ihr eigenes Spiegelbild, richtete sich die Haare ein wenig und frischte den Lippenstift auf. Korallenrot. Ja, damit sie zum Schlips passte, knurrte Kurt innerlich, während er ihn gehorsam aus dem Garderobenschrank holte, wo alle seine schicken Krawatten in Reih und Glied am Krawattenhalter hingen. Selbst die riefen bei ihm nostalgische Erinnerungen an sein vergangenes Arbeitsleben hervor. Er erinnerte sich, welche Krawatte er bei jeder einzelnen Pressekonferenz im Polizeipräsidium getragen hatte.
„Warum müssen wir auch so verdammt schick sein“, knurrte er weiter, als er wieder neben Eve vor dem Spiegel stand und routiniert seinen doppelten Windsorknoten band. „Das ist doch verflixt nochmal nur ein Abendessen - sogar in unserem eigenen Zuhause.“
Nachdem sie beide in Rente gegangen waren, konnten sie ihr Sommerhaus durchaus als ihr Zuhause bezeichnen. Auf jeden Fall im Sommer.
„Du weißt, wie tadellos Poul Erik und Lissi immer gekleidet sind, nicht? Ihre Ausstrahlung zeigt, wie gut es ihnen geht.“
„Hmm. Sie verkauft Klecksereien, die sie feine Kunst nennt, und er lebt von - Scheiße. Was ist daran schick?“
„Scheiße? Was ist das für eine Ausdrucksweise, Kurt! Lissi hat erzählt, dass Poul Erik einen riesigen Auftrag für die neue Verbrennungsanlage bekommen hat. Nicht aller Abfall ist Scheiße. Viel wird zur Wiederverwertung weiterverkauft, erzählte Lissi. Sie helfen damit, die Umwelt der gesamten Erde zu verbessern. Und wie kannst du die Werke in ihrer Galerie nur Klecksereien nennen?! Wir haben selbst ein paar davon im Wohnzimmer hängen.“
Kurt Olsen schüttelte den Kopf. Wenn es nach ihm ginge, würde diese Art Kunst auch nicht an den Wänden hängen.
„Es ist doch bewundernswert, dass sie beide selbstständig arbeiten und weitermachen, obwohl sie sich schon längst hätten zurückziehen können. Viele könnten etwas von ihnen lernen“, fuhr Eve enthusiastisch fort. Sie holte ihre vergoldete Georg Jensen-Margeriten-Halskette aus der Schublade und legte sie an, zusammen mit den passenden Ohrringen, während Kurt Olsen überlegte, ob die Worte als Vorwurf an ihn gemeint waren.
Es war schon bewundernswert, was Eves Freunde geleistet hatten. Aber machten sie weiter? Was taten sie eigentlich? Es kam ihm so vor, als ob sie immer auf Reisen wären. Eve musste das Datum für die Einladung verschieben, weil sie auf einer Kreuzfahrt ans Nordkap waren, also wie viel hatten sie eigentlich mit ihren Firmen zu tun? Darum kümmerten sich sicher andere.
„Lissi ist doch nur in ihrer Galerie, wenn irgendein bekannter Künstler, mit dem sie sich gerne für irgendeine Zeitung fotografieren lassen will, da ausstellt“, murmelte er.
Eve senkte die Parfümflasche und schaute ihn im Spiegel wütend an.
„Was hast du denn für eine Laune? Die darfst du gerne ändern, bevor die Gäste kommen. Vielleicht war es doch zu früh für deine Entscheidung, deinen Ruhestand zu genießen!“
Es war gar nicht seine Entscheidung gewesen, schon in Rente zu gehen. Das wusste Eve bloß nicht. Tatsächlich hatte er es im letzten Augenblick bereut und versucht, den Polizeidirektor zu überreden, ein bisschen länger bleiben zu dürfen. Zumindest, bis ein wenig Ruhe eingekehrt war um den Neuen, nach dem Skandal in seiner Familie, wo der Vater - ebenfalls ein alter Polizeibeamter - wegen Mordes verhaftet worden war. Aber der Polizeidirektor hatte Anker