Kap. X. (§ 33.) Das im Vorstehenden so oft erwähnte Gut wird auch durch eine Definition erklärt. Ihre Definitionen weichen zwar ein wenig stark von einander ab, allein sie zielen doch alle auf dasselbe hin. Ich selbst trete dem Diogenes bei, nach welchem das Gut das von Natur Vollendete ist. Das, was aus diesem ebenfalls folgt, was nützt (denn so nennen wir die ôphelêma), das nannte er eine Bewegung oder einen Zustand au dem von Natur Vollendeten. Da ferner die Begriffe der Dinge in der Seele sich bilden, wenn etwas durch Gebrauch oder vermöge der Verbindung, oder Aehnlichkeit, oder vermöge Vergleichung durch die Vernunft bekannt geworden, so ist aus diesem Vierten, was ich zuletzt genannt habe, die Kenntniss des Guten erlangt worden. Denn wenn die Seele von den Dingen, die der Natur gemäss sind, durch vernünftige Vergleichung aufsteigt, so gelangt sie zu dem Begriff des Guts. (§ 34.) Dieses Gut empfinden und nennen wir nicht deshalb so, weil etwas Anderes hinzutritt, oder wegen eines Zunehmens, oder einer Vergleichung mit Anderem, sondern auf Grund seiner eigenen Kraft. So wie der Honig, obgleich das Süsseste, doch nur durch seine eigene Art von Geschmack und nicht durch die Vergleichung mit Anderem als süss empfunden wird, so ist das Gut, worüber wir verhandeln, zwar als das Höchste zu schätzen, aber diese Schätzung beruht auf seiner Eigenart und nicht auf seiner Grösse; denn da jene Schätzung, welche axia heisst, weder zu den Gütern noch zu den Uebeln gerechnet wird, so bleibt sie in ihrer Art unverändert, so viel man sie auch vermehrt. Die Tugend hat daher ihre eigene Werthschätzung, die auf ihrer Eigenart und nicht auf einem Mehr beruht. (§ 35.) Auch könnte ich die Gemüthsbewegungen, welche das Leben der Thoren elend und bitter machen und welche die Griechen pathê nennen, in wörtlicher Uebersetzung könnte ich sie Krankheiten nennen, allein dieser Name würde nicht überall passen; denn wer wurde wohl das Mitleiden oder selbst den Zorn eine Krankheit nennen? Aber ein pathos werden sie von Jenen genannt; sie mögen also Leidenschaften heissen, wo schon der Name ihre Fehlerhaftigkeit anzudeuten scheint, und es giebt von ihnen vier Gattungen, die in mehrere Arten zerfallen, wie der Kummer, die Furcht, die Ausgelassenheit und das, was die Stoiker mit einem für Körper und Seele zugleich geltenden Namen hêdonên nennen und ich lieber Fröhlichkeit nenne, gleichsam eine freudige Erhebung der sich aufblähenden Seele. Diese Leidenschaften werden nicht durch die Kraft der Natur erweckt, sondern sind lediglich leichtsinnige Meinungen und Urtheile; der Weise wird deshalb immer frei von ihnen sein.
Kap. XI. (§ 36.) Der Satz, dass alles Sittliche um sein selbst willen zu erstreben sei, ist uns mit vielen andern Philosophen gemeinsam; denn mit Ausnahme dreier Systeme, welche die Tugend ganz von dem höchsten Gut ausschliessen, halten alle anderen Philosophen an diesem Satze fest, insbesondere die Stoiker, die nur das Sittliche allein als ein Gut anerkennen wollen. Der Beweis dafür ist leicht und schnell zu geben; denn wo gab es und wo giebt es jetzt Jemanden von so brennendem Geiz oder so ungezügelten Leidenschaften, dass er eine Sache, die er sich durch irgend ein Verbrechen verschaffen will, nicht zehnmal lieber, selbst bei angenommener völliger Straflosigkeit ohne Unthat, als auf jene Weise erlangen mag? (§ 37.) Und welchen Nutzen und Vortheil hätte man wohl vor Augen, wenn man das Verborgene zu erforschen strebt, und die Art, in welcher, und die Ursachen, durch welche die Himmelskörper sich bewegen? Wer ist so in seine bäurischen Beschäftigungen versunken oder so gegen die Erforschung der Natur verhärtet, dass er von den wissenswerthen Dingen sich wegwendet und sie, so weit sie keine Lust oder keinen Nutzen gewähren, nicht mag und für Nichts achtet? Und wer freut sich nicht in seiner Seele, wenn er von den Thaten, Reden, Plänen solcher Vorfahren, wie der mit dem Beinamen der Afrikaner geehrten Männer oder meines Urgrossvaters, den Du immer, im Munde führst, und anderer tapferer und in jeder Tugend hervorragender Männer hört? (§ 38.) Und wer wird umgekehrt, wenn er in einer braven Familie unterrichtet und wie ein freier Mann erzogen worden ist, nicht durch die Schlechtigkeit an sich verletzt, selbst wenn er keinen Schaden davon hat; wer kann mit ruhiger Miene Den sehen, der eine schmutzige und lasterhafte Lebensweise führt? Wer hasst nicht die Schmutzigen, die Eitlen, die Leichtfertigen, die Unzuverlässigen? Wer kann, wenn die Schlechtigkeit nicht um ihrer selbst willen gemieden werden soll, behaupten, dass die Menschen in der Einsamkeit und Finsterniss nicht alle Schandthaten begehen werden, wenn das Schändliche nicht durch seine eigene Hässlichkeit sie abschreckt? Man kann Unzähliges hierüber sagen, es ist aber nicht nöthig, denn nichts ist zweifelloser, als dass das Sittliche um sein selbst willen zu suchen und ebenso das Schlechte um sein selbst willen zu fliehen ist. (§ 39.) Nachdem somit der vorher besprochene Satz feststeht, dass das Sittliche allein ein Gut ist, so erhellt, dass das Sittliche auch höher steht als jene Mitteldinge, die erst durch dasselbe erlangt werden. Wenn wir aber sagen, dass die Thorheit und Furchtsamkeit oder Ungerechtigkeit wegen der aus ihnen hervorgehenden Folgen vermieden werden müssen, so ist damit nichts behauptet, was dem früher aufgestellten Satze, wonach nur das Schlechte das alleinige Uebel ist, widerspräche; denn diese Folgen sind nicht von dem körperlich Unangenehmen, sondern von den schlechten Handlungen zu verstehen, welche aus den Lastern hervorgehn; denn das, was die Griechen kakias nennen, möchte ich eher Laster als Bosheiten übersetzen. –
Kap. XII. (§ 40.) Du gebrauchst, mein Cato, sagte ich, vortreffliche Worte, welche das, was Du im Sinne hast, genau ausdrücken. Du scheinst mir daher die Philosophie schon lateinisch zu lehren und ihr gleichsam das Bürgerrecht bei uns zu geben. Bisher war sie nur ein Fremdling in Rom, der sich nicht in unsere Unterhaltungen mischte; namentlich gilt dies für die Philosophie der Stoiker wegen der gefeilten Schärfe ihrer Begriffe und Ausdrücke. Ich kenne allerdings Leute, die in jeder Sprache philosophiren zu können meinen, denn sie gebrauchen weder Eintheilungen, noch Definitionen und erklären, dass sie nur das gelten lassen, dem die Natur von selbst zustimme. Daher machen ihnen in klaren Dingen ihre Ausführungen wenig Mühe. Ich gebe deshalb eifrig auf Dich Acht und ich merke mir Namen, mit denen Du die hier besprochenen Gegenstände bezeichnest, da ich vielleicht auch davon Gebrauch machen werde. So scheinst Du mir auch die Laster ganz richtig als Gegensatz der Tugenden, unserm Sprachgebrauch gemäss, aufgestellt zu haben; denn was an sich Lästerung verdient, wird deshalb auch ein Laster genannt worden sein oder es kann auch vom Laster das Lästern abstammen. Hättest Du die kakia Bosheit genannt, so hätte dieses Wort uns nur zu einem einzelnen bestimmten Laster nach unserm Sprachgebrauch geführt. Jetzt ist aber das Laster das Wort, was das Gegentheil von allen Tugenden bezeichnet. – (§ 41.) Cato fuhr hierauf fort: Nachdem wir dies so festgestellt haben, folgt nun eine grosse Streitfrage, welche die Peripatetiker zu leicht behandelt haben (da sie sich nicht sehr bestimmt auszusprechen pflegen, weil ihnen die Kenntniss der Dialektik abgeht); allein Dein Karneades hat bei seiner ausgezeichneten Gewandtheit in der Dialektik und grossen Beredsamkeit die Sache in grosse Gefahr gebracht; denn er behauptet fortwährend, dass in dieser ganzen Frage die Stoiker mit den Peripatetikern sachlich einig und nur in den Worten uneinig wären. Ich finde dagegen nichts so klar, als dass die Ansichten dieser beiden Schulen mehr in der Sache, als in den Worten auseinandergehn; ich sage, die Stoiker und Peripatetiker sind weit mehr in der Sache, als in den Worten uneinig, weil die Peripatetiker Alles, was sie ein Gut nennen, auf das glückliche Leben beziehn, während wir nicht annehmen, dass Alles, was einigermaassen schätzenswerth ist, mit zu dem glücklichen Leben gehöre.
Kap. XIII. (§ 42.) Kann wohl etwas sicherer sein, als dass nach dem Grundsatz Derer, welche den Schmerz zu den Uebeln rechnen, der Weise nicht glücklich sein kann, wenn er mit der Pferdemaschine gefoltert wird? Dagegen ergiebt die Lehre Jener, welche den Schmerz nicht zu den Uebeln rechnen, dass der Weise in allen Qualen sich ein glückliches Leben bewahren kann; denn wenn dieselben Schmerzen erträglicher werden, sofern man sie für das Vaterland erträgt statt für eine geringere Sache, so ist es nicht die Natur, sondern die Meinung, welche den Schmerz stärker oder schwächer macht. (§ 43.) Auch ist es nicht richtig, dass, wenn es drei Arten von Gütern giebt, wie die Peripatetiker annehmen, mithin Jemand um so glücklicher wäre, je mehr er an Gütern des Leibes und äusserlichen Gütern besässe, auch wir dem beitreten müssten, dass Der glücklicher sei, welcher mehr von dem hat, was in Bezug auf den Körper schätzenswerth gilt. Jene nehmen allerdings an, dass das Glück des Lebens erst durch die körperlichen Annehmlichkeiten vollständig werde, aber nicht wir. Denn wir nehmen nicht einmal an, dass durch die Menge dessen, was wir wirklich als Güter anerkennen, das Leben glücklicher, oder begehrenswerther, oder schätzenswerther werde, und deshalb