Hier ist die Quelle der Vorwürfe, welche mir mein aufgeschrecktes Gewissen macht, und des geheimen Unfriedens, der mein Herz zerfleischt. Es handelt sich nicht darum, ob ich ein Recht habe, über mich zu verfügen gegen den Willen der Urheber meiner Tage, sondern ob ich so verfügen kann, ohne sie bis in den Tod zu betrüben, ob ich entfliehen kann, ohne sie in Verzweiflung zu stürzen. Ach! es wäre nichts Anderes, als wollte man fragen, ob ich das Recht habe, ihnen das Leben zu nehmen. Seit wann wägt die Tugend so die Rechte des Blutes und der Natur? Seit wann steckt ein gefühlvolles Herz so ängstlich die Grenzen der Erkenntlichkeit ab? Heißt es nicht schon, sich strafbar machen. wenn man bis zu dem Punkte geht, wo die Strafbarkeit beginnt? Und sucht man so mühsam die Grenzen seiner Pflichten auf, wenn man nicht schon versucht ist, sie zu überschreiten? Was? Ich? ich sollte fühllos Die verlassen, von denen ich das Leben habe, sie, die mir das Leben erhalten, das sie mir geschenkt haben, und es mir lieb machen, sie, die keine andere Hoffnung, keine andere Freude haben als mich allein, einen fast sechzigjährigen Vater, eine stets kränkelnde Mutter! ich, ihr einziges Kind, ich sollte sie ohne Beistand lassen in der Mühseligkeit und Oede des Alters, dann, wenn es Zeit ist, ihnen die zärtliche Sorge zu erwiedern, die sie auf mich verschwendet haben! ich sollte ihre letzten Tage der Scham, dem Leide, den Thränen preisgeben! Der Schauder, der Schrei meines aufgestachelten Gewissens würden mir unaufhörlich meinen Vater, meine Mutter vormalen trostlos sterbend und der undankbaren Tochter fluchend, die sie verlassen und entehrt hat! Nein, Milord, die Tugend, von der ich gewichen bin, weicht nun auch von mir und spricht nicht mehr zu meinem Herzen, aber dieser schaudervolle Gedanke spricht an ihrer Statt; er würde mir zu meiner Qual in jedem Augenblicke meines Lebens folgen und würde mich elend machen im Schooße des Glückes. Kurz, wenn einmal mein Leben hinfort den innern Vorwürfen verfallen sein muß, so ist doch gerade dieser zu schrecklich, als daß er sich ertragen ließe; ich will lieber allen anderen trotzen.
Ich kann Ihren Gründen nichts entgegensetzen, ich gestehe es, ich habe nur zu große Neigung, sie gut zu finden. Aber, Milord, Sie sind nicht verheirathet: fühlen Sie nicht, daß man Vater sein muß, um das Recht zu haben, fremden Kindern Rath zu geben? Mein Entschluß ist gefaßt; meine Eltern werden mich unglücklich machen, ich weiß es; aber es wird weniger hart für mich sein, mein Unglück zu beseufzen, als mich schuld an dem ihrigen zu wissen, und ich werde nimmermehr aus dem väterlichen Hause entlaufen. Fahre denn hin, süßes Trugbild einer empfindsamen Seele, reizendes, ersehntes Glück, fahre dahin in die Nacht der Träume, du wirst für mich keine Wirklichkeit mehr haben. Und Sie, allzu großmüthiger Freund, vergessen Sie Ihre liebenswürdigen Pläne, und keine Spur bleibe davon zurück, außer auf dem Grunde eines Herzens, das zu dankbar ist, um sie je vergessen zu können. Wenn das Uebermaß unserer Leiden Ihre große Seele nicht entmuthigt, wenn Ihre hochherzige Güte nicht erschöpft ist, so haben Sie noch Gelegenheit, sie rühmlich anzuwenden, und Der, den Sie mit dem Titel Ihres Freundes beehren, kann durch Ihre Bemühungen dahin gelangen, daß er es zu werden verdient. Beurtheilen Sie ihn nicht nach dem Zustande, in welchem Sie ihn erblicken: seine Verstörtheit rührt nicht von Schwachmuth her, sondern von einem feurigen, stolzen Geiste, der sich gegen das Schicksal bäumt. Es ist oft mehr Stumpfheit als Muth in einer anscheinenden Standhaftigkeit; der gewöhnliche Mensch weiß nichts von heftigen Schmerzen, und große Leidenschaften entkeimen nicht in schwachen Seelen. Ach! er hat in die seinige jene Fülle des Gefühls gepflanzt, welche die edlen Seelen auszeichnet, und das, das ist schuld an meiner jetzigen Schande und Verzweiflung. Milord, o glauben Sie mir, wenn er nichts als ein gewöhnlicher Mensch wäre, würde Julie nicht untergegangen sein.
Nein, nein, diese geheime Hinneigung, die in Ihnen einer gerechtfertigten Achtung zuvorkam, hat Sie nicht getäuscht. Er verdient Alles, was Sie für ihn gethan haben, ohne ihn noch recht zu kennen; Sie werden wo möglich noch mehr thun, wann Sie ihn erst kennen werden. Ja, sein Sie sein Tröster, sein Beschützer, sein Freund, sein Vater; zugleich Ihretwegen und seinetwegen beschwöre ich Sie darum; er wird Ihr Vertrauen rechtfertigen, er wird Ihren Wohlthaten Ehre machen, er wird Ihre guten Lehren nutzen, er wird Ihre Tugenden sich zum Vorbilde nehmen, er wird von Ihnen Weisheit lernen. Ach, Milord, wenn er unter Ihren Händen zu dem wird, was er werden kann, wie stolz werden Sie eines Tages auf Ihr Werk sein!
Siebenter Brief.
Von Julie.
Und auch du, mein süßer Freund! und du, die einzige Hoffnung meines Herzens, auch du durchbohrst es noch, wenn es schon vor Betrübniß stirbt! Ich war gefaßt auf die Schläge des Schicksals, eine lange Vorahnung hatte sie mir in der Ferne gezeigt; ich würde sie um Geduld ertragen haben: aber du, um dessen willen ich sie leide! .... Ach, die allein, welche mir von dir kommen, sind mir unerträglich, und es ist schrecklich, meine Leiden durch Den erschwert zu sehen, welcher sie mir lieb machen sollte. Wie viel süßen Trost hatte ich mir versprochen, der nun mit deinem Muthe in die Lüfte verfliegt! Wie oft schmeichelte ich mir, daß deine Kraft meine Ohnmacht stärken, daß dein Verdienst meinen Fehltritt auslöschen, daß deine Tugenden meine gebeugte Seele aufrichten würden! Wie oft wischte ich meine bitteren Thränen ab und sagte mir: ich leide für ihn, aber er ist es werth; ich bin strafbar, aber er ist tugendhaft; tausend Trübsale belagern mich, aber seine Standhaftigkeit hält mich aufrecht, und ich finde in der Tiefe seines Herzens Alles wieder, was ich selbst verloren habe. Eitele Hoffnung, welche die erste Prüfung zerstört hat! Wo ist jetzt jene erhabene Liebe, die alle Gefühle adelt und Tugenden ins Dasein ruft? Wo sind jene stolzen Grundsätze? Wo ist jene Nacheifrung großer Männer? Ist das der Philosoph, den das Unglück nicht erschüttern kann, er, der bei dem ersten Unfall, welcher ihn von seiner Geliebten trennt, daniederliegt? Welchen Vorwand werde ich nun noch haben, meine Schande in meinen eigenen Augen zu entschuldigen, wenn ich in Dem, der mich verführt hat, nur noch einen Menschen sehe ohne Muth, verweichlicht vom Genusse, ein feiges Herz, das sich vom ersten Mißgeschicke niederschlagen läßt, einen Unbesonnenen, der den Verstand verliert, gerade wenn er ihn am meisten nöthig hat? O Gott, mußte meine Demüthigung dieses Uebermaß erreichen, daß ich auch noch über meine Wahl nicht minder erröthen muß als über meine Schwachheit?
Siehe, wie du mein vergissest! deine verwirrte, in den Staub geschlagene Seele erniedrigt sich bis zur Grausamkeit! Du kannst es über dich bringen, mir Vorwürfe zu machen, kannst es über dich bringen, dich über mich zu beklagen! .... über deine Julie! …. Unmensch! …. wie haben nicht deine Gewissensbisse, deine Hand gehemmt? wie haben dir die süßesten Beweise der zärtlichsten Liebe, die es jemals gab, den Muth gelassen, mich zu schmähen? Ach, wenn du an meinem Herzen zweifeln könntest, wie verächtlich wäre das deinige! …. Aber nein, du zweifelst nicht, du kannst nicht zweifeln, ich kann deiner Wuth darauf die Wette bieten, und selbst in diesem Augenblicke, da ich deine Ungerechtigkeit hasse, siehst du nur zu gut, was es ist, das mir zum ersten Male in meinem Leben den Zorn erregt hat.
Kannst du es mir aufwälzen, wenn ich mich durch ein blindes Vertrauen ins Verderben gestürzt, und wenn mein Vorhaben nicht geglückt ist? Wie würdest du erröthen über deine Härte, wenn du wüßtest, welche Hoffnung mich verleitet hatte, welche Pläne ich für dein und mein Glück zu machen mich erkühnt hatte und auf welche Art alle meine Hoffnungen zerstoben sind! Eines Tages (noch immer schmeichle ich mir so) wirst du vielleicht mehr davon erfahren können, und dann wird deine Reue mich für deine Vorwürfe rächen. Du weißt das Verbot meines Vaters, dir sind die Stadtgespräche nicht unbekannt; ich sah die Folgen von dem allen voraus, ich ließ sie dir vorstellen, du fühltest sie wie wir; und um uns einander zu erhalten, mußten wir uns dem Schicksale unterwerfen, das uns trennte.
Also weggejagd habe ich dich, wie du es nennen magst! Aber wofür that ich es, Liebhaber ohne Zartgefühl? Undankbarer! Für ein Herz, das viel biederer ist, als es selber denkt, und das tausendmal lieber sterben als mich erniedrigt sehen möchte. Sage mir, wie wird dir zu Muthe sein, wenn ich der Beschimpfung preisgegeben bin? Hoffst du das Schauspiel meiner Schmach ertragen zu können? Komm, hartes Herz, wenn du das glaubst, komm und nimm das opfer meines Rufes mit demselben Muthe entgegen, mit welchem ich es dir zu bringen fähig bin. Komm, fürchte nicht, daß dich Die verleugnen wird, der du theuer warst. Ich bin bereit, im Angesicht des Himmels und der Menschen